Marburg. In den Wirren der Nachkriegstage wurde der Leichnam Paul von Hindenburgs nach Marburg gebracht. Dort ruht der frühere Reichspräsident bis heute.
Christliche Sakralbauten bergen oft Jahrhunderte alte Geheimnisse. St. Peter in Rom steht über dem 2000-jährigen Petrusgrab, wobei unklar ist, ob der Apostel je bis nach Rom kam. Der Dom zu Aachen weist von der Kuppel bis ins Fundament einen Riss auf. Es war ein Erdbeben, das die Baumeister kurz nach der Fertigstellung um 800 nach Christus überraschte. Die evangelische Elisabethkirche im hessischen Marburg hingegen, die wegen ihrer Zwillingstürme an den Kölner Dom erinnert, versteckt in den Mauern ein Stück brisanter deutscher Zeitgeschichte.
Gerade wird ihr Innenraum neu gestaltet. Frischere Farbe soll die Wände heller machen, sagt Probst Volker Mantey, „der letzte Anstrich stammt aus den 1930er-Jahren. Er ist relativ dunkel“. Doch eine mit einem Seil abgetrennte Ecke, gleich links neben dem Haupteingang unter dem Nordturm, war bisher bewusst im Dunkeln gehalten worden. Ihre Existenz sucht man in aktuellen Reiseführern, Flyern der Kirchengemeinde und auf Websites seit vielen Jahren vergebens. Was ist dort verborgen?
Die Nische, von der wohl viele Marburger keine Ahnung haben, verdeckt kein religiöses Mysterium. Rund einen halben Meter ragen zwei Betondeckel aus dem Boden. Unter einem liegt der Leichnam eines ehemaligen deutschen Staatsoberhaupts. Neben ihm: der seiner Ehefrau. Marburgs SPD-Oberbürgermeister Thomas Spies spricht nicht von einem Grab. Es sei ein „Lagerort“ für die sterblichen Überreste von Paul von Hindenburg (1847-1934) – jener Reichspräsident, der im Januar 1933 unter dem Druck eines zerstrittenen Parlaments Adolf Hitler zum Reichskanzler berief und damit der Nazi-Herrschaft in Deutschland Tür und Tor öffnete.
Hindenburg hat Marburg nie besucht
Die Wortwahl von Thomas Spies klingt respektlos. Was der OB jedoch meint, ist: Dass Hindenburg, der 1925 und 1932 direkt gewählt wurde, hier seine Ruhestätte fand, war nie gewollt: „Keiner beachtet es – das ist eigentlich kein schlechter Zustand.“
Hindenburg hat mit Marburg wenig zu tun. Er hatte die Stadt nie besucht. Wie konnte seine Leiche dann ins Lahntal gelangen? Auf die Spur führt das Buch des amerikanischen Autors Robert Edsel über die „Monument Men“. Darin erzählt Edsel die wahre Geschichte aus dem Deutschland der letzten Kriegstage.
Es ist der 1. Mai 1945. Lieutenant George Stout aus Winterset im US-Bundesstaat Iowa macht sich über die zwölf Jahre zurückliegende Machtergreifung der Nazis wenig Gedanken. Adolf Hitler hat sich am Vortag in Berlin erschossen, und der amerikanische Kunstschutz-Offizier pirscht nur Tage vor der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reichs mit Captain Walker Hancock in 550 Meter Tiefe durch ein Kalibergwerk im thüringischen Bernterode.
Die 1. US-Armee hat das Dorf eingenommen. Befreite Zwangsarbeiter erzählen ihren Befreiern von einem 24 Kilometer weiten Schächte-System im Untergrund. Die Nazis hätten dort kostbare Schätze gehortet – und die Särge hochrangiger Persönlichkeiten, die gerade aus dem Osten des untergehenden Reichs nach Thüringen gebracht worden seien.
Die Amerikaner finden ein Loch zu einer Kammer. „Du hast den Vortritt“, sagt Hancock zu Stout. Sie tasten sich vorsichtig voran. Die Braunhemden haben an diesem Ort nicht nur mehr als 200 geraubte wertvolle Gemälde gebunkert und eine Unmenge preußischer Regimentsfahnen, sondern auch 400.000 Tonnen Sprengstoff. An der nächsten Wand stößt das Duo auf vier Sarkophage. Stout und Hancock, der eine im Zivilleben Restaurator und der andere Bildhauer, zögern. Dann sehen sie kleine Zettel, die offenbar die Deutschen vor ihrer Flucht auf die klobigen Kästen gepappt haben. Auf dem einen der Name des preußischen „Soldatenkönigs“ Friedrich Wilhelm I., auf dem anderen der seines Sohnes Friedrich der Große. Zwei weniger pompöse Särge sind mit Paul und Gertrud von Hindenburg beschriftet. Die Amerikaner verzichten auf eine Öffnung und damit auf die Identifizierung. Als Beleg für Hindenburgs Ruhestätte reicht ihnen ein aus der Literatur bekannter Brandfleck. Ein Fotograf hatte bei der Beerdigungsfeier 1934 im damals ostpreußischen Tannenberg versehentlich das Tuch angekokelt.
Stout weiß, was sein Job ist: Thüringen wird sowjetisches Besatzungsgebiet, Kunstwerke und Särge müssen schnellstens geborgen werden, sollen sie nicht den Sowjets in die Hände fallen. Man verlädt die brisante Fracht auf Lastwagen, dann geht es im Konvoi ins Terrain der künftigen Westzonen. Doch schon die erste Teilstrecke der Operation „Bodysnatch“ entwickelt sich gleichsam zur Realsatire. Nicht nur, dass der Offizier in der Nacht zum 7. Mai 1945 rittlings auf dem viel zu schweren Sarg des Alten Fritz sitzt und mit dem Aufzug im Bergwerk steckenbleibt. Draußen spielen sie in diesem Moment auch noch die amerikanische Nationalhymne. Deutschland hat kapituliert.
„God save the King“ für den „Alten Fritz“
Und als Stout endlich über Tage ankommt und GIs den Sarg mit dem toten Monarchen in die sternenklare Nacht Bernterodes schleppen, folgt die Hymne der Briten. In der Stunde des alliierten Sieges wird Friedrich der Große mit „God save the King“ begrüßt.
Das amerikanische Depot, Ziel des Konvois, liegt 160 Kilometer weiter westlich im Hessischen. In Marburg. Die „Monument Men“ deponieren die Särge dort Tage später erst im Stadtarchiv, dann im Vorraum der Heizung des Marburger Schlosses – in den Wochen nach Kriegsende haben die Sieger andere Sorgen. Ebenso die deutschen Kriegsverlierer.
Die Lage ändert sich erst im März 1946, als sich die US-Militärs den Kopf über eine endgültige Bleibe der menschlichen Überreste zerbrechen. So erzählt es der Geschichtswissenschaftler Ulrich Hussong. Die britischen Verbündeten schalten auf stur. Eine Beisetzung der Hindenburgs in Hannover, wo der Reichspräsident vor seinem Tod 1934 gewohnt hat, lehnen sie strikt ab. Die Amerikaner scheuen den politischen Eklat unter engen Verbündeten. Ihre Zonenverwaltung ordnet an: Letzter Ort für die vier Särge wird die Marburger Elisabethkirche. Dort sei noch Platz. Es ist der Beginn für einen inzwischen sieben Jahrzehnte dauernden Konflikt.
Hermann Brill tobt, als die US-Order am 24. Mai 1946 auf seinem Schreibtisch landet. Der Chef der hessischen Staatskanzlei, ein NS-Verfolgter, findet es höchst „unangebracht“, einen der Mitschöpfer des Dritten Reichs durch eine Ruhestätte in einer großen Kirche zu ehren. Brill protestiert schriftlich. Sollen Nazis etwa das Gotteshaus als Bühne für ihre politischen Demonstrationen nutzen dürfen?
Angehörige kommen heimlich
Die Amerikaner aber bleiben unnachgiebig. In zwei getrennten Feierlichkeiten – eine offizielle für die Preußenkönige, eine kleinere für die Hindenburgs – werden die vier Leichname in unterschiedlichen Bereichen der Elisabethkirche bestattet. Um weiteren Streit mit den Engländern zu umgehen, muss ein US-Offizier Hindenburg-Hinterbliebene per Laster aus der britischen Zone zur Beerdigung nach Marburg schmuggeln – und nachts darauf wieder zurück.
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Der Widerstand gegen die Ruhestätten in der Kirche ist zäh, auch in der jungen Bundesrepublik. „Symbole des Militarismus“ nennt Hessens Landesregierung die Grabstätten, die in der Kirche nichts zu suchen hätten. Aber als der Soldatenkönig und sein Sohn 1952 in die Hohenzollern-Stammsitz Hechingen umgebettet werden – bevor er 1992 seine letzte Ruhestätte in Potsdam finden wird – beruhigt sich die Lage. Zwar kommt es noch zu Zwischenfällen. Mal wollen Rechtsextreme den toten Reichspräsidenten mit Kränzen ehren. Mal kippen Linke Buttersäure über die Grabstätten. Unter der Oberfläche aber sorgt das Thema in der hessischen Landespolitik für Diskussionen.
Im Jahr 2022 ist es eine Behörde, die provoziert. Das Landesamt für politische Bildung durchkreuzt die Schweige-Politik der Stadt Marburg und der Kirche und ordnet die Grabstätte als „Lern- und Erinnerungsort der Demokratie in Hessen“ ein, so wie etwa das Luftbrückendenkmal in Frankfurt. Der Aufschrei ist gewaltig. Die Amtsleitung muss den Eintrag streichen und sich entschuldigen. Dennoch: Die Zeit der „geheimen“ Ruhestätte in der Elisabethkirche, zu der Interessierte allenfalls auf Nachfrage ein DIN-A4-Infoblatt vom Küster erhalten, könnte bald zu Ende gehen.
Problematisches Erbe dokumentieren
Probst Volker Mantey und der Historiker Eckart Conze, der das Verhalten der Landesbehörde als „Skandal“ kritisiert hatte, möchten mit Fachleuten und der Stadtgesellschaft reden und eine Diskussion über eine – begrenzte – Öffnung führen. Mantey zu unserer Redaktion: „Das Grab ist nun mal da. Wir wollen überlegen, was wir tun. Es geht im Prinzip um die Person Hindenburgs, aber auch: Wie ist problematisches Erbe zu dokumentieren? Wie kann man solch eine Grabstätte unter musealen Gesichtspunkten präsentieren, damit die Menschen die Informationen erhalten, um alles selbst bewerten zu können?“ Ein neues Konzept sollen Studierende der Universität Marburg in den nächsten Monaten erarbeiten.
Der Name des einstigen Reichspräsidenten sorgt nicht nur in Marburg für hitzige Debatten. Immer mehr Großstädte tilgen Hindenburg-Straßen oder -Plätze vom Stadtplan, so etwa in Münster, Hannover, Trier und Darmstadt. Wie entscheidet man sich in Marburg? Die Grabstätten des Reichspräsidenten und seiner Frau in Marburg sind derzeit durch eine abgeschlossene „Glasbauhütte“ verborgen, in der alte Kirchenfenster aufbewahrt und renoviert werden. Mit dem Ende der Renovierung der Elisabethkirche wird auch dieses Hindernis verschwinden, und das neue Konzept, wie genau es auch immer aussehen mag, soll zum Zuge kommen. „Vielleicht“, sagt Probst Mantey, „kann das dann doch noch ein Lernort der Demokratie werden.“
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