Dortmund. Karl Strötzel war als Kind mehrfach in den Kurheimen. Der Dortmunder berichtet von Schlägen, Toilettenverbot und einem seltsamen Pulver im Essen.
„Die Tanten streuten mir Pulver ins Essen. Es war grau. Ich habe keine Ahnung, was das war. Ich nehme an, irgendwelche Mineralstoffe. Ein Medikament? Ein Appetitanreger? Es schmeckte scheußlich. Es sah aus wie Asche, als käme es aus der Tonne. Jeden Mittag ging das so“. Die „Tanten“? Das waren die Erzieherinnen und aufsichtsführenden Nonnen in privaten Ferien-Einrichtungen oder denen von Kommunen, Wohltätigkeitsverbänden, Kirchen und Krankenkassen. Erzählt wird die Geschichte des „grauen Pulvers“ von Karlheinz Strötzel, heute 73 Jahre alt. Der gebürtige Dortmunder war als Kinder immer wieder ins Heim geschickt worden.
Strötzel war ein Verschickungskind. Eines von fast zwei Millionen in Nordrhein-Westfalen und bundesweit zehn Millionen, die zwischen 1950 und den 80er-Jahren „zur Erholung“ in diese Kurheime verschickt wurden. Die man dort demütigte und anschrie und deren Kontakt zu den Eltern über eine Art Postzensur eingeschränkt wurde. Die bei „Fehlverhalten“ mit Riemen geschlagen, zu Essen und Schlaf gezwungen wurden, mit Arzneien ruhiggestellt und bei Missachtung von Befehl und Gehorsam in die Steh-Ecken verbannt. So berichten es heute viele der ehemaligen Verschickungskinder, nicht nur Karlheinz Strötzel.
Fünf solcher Heimaufenthalte hat Strötzel erlebt, drei davon waren „Kuren“. Er war vier Jahre alt beim ersten Mal, in Bad Waldliesborn bei Paderborn. 1956 ging es ins Kinderkurheim der Stadt Dortmund nach Heidenoldendorf. 1957 folgte das Caritas Westfalenhaus in Niendorf an der Ostsee, 1960 die Kur am Freibergsee in Oberstdorf und noch einmal, 1961, das Dortmunder Heim. Da war Strötzel elf. Einmal vier und vier mal sechs Wochen dauerten die Aufenthalte. Immer während der Schulzeit. Immer, weil ein Schul- oder Amtsarzt ihn als „zu dünn“ befunden und die Eltern gemahnt hatte: „Karlheinz muss zur Kur. Das Kind stirbt Ihnen sonst weg“. Die Drohung, mit der Mediziner Druck auf die Familie ausübten, sei massiv gewesen, erinnert Strötzel sich: „Sie müssen sonst die Folgen tragen!“
„Wegsperren ist Freiheitsentzug“
Die Verschickungskinder erhalten gerade ein spätes Entgegenkommen durch den Staat. Als erstes Bundesland lässt NRW die Vorgänge in den Verschickungsheimen aufarbeiten. Es lässt Reue erkennen. „Es ist höchste Zeit, dieses Leid wahrzunehmen und die Ursachen und Umstände systematisch und umfassend zu erforschen“, glaubt Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU). Ein runder Tisch ist im Frühjahr gestartet, der vier mal jährlich zusammentrifft. Parallel hat sich die Krankenkasse DAK nach einer Studie zum eigenen Verhalten für ihre „dunkle Seite“ entschuldigt.
Auch liegt ein Bericht vor, den die Sozialversicherungsträger im Auftrag des Düsseldorfer Gesundheitsministeriums erstellt haben. Allein die beiden Landschaftsverbände haben danach zwischen 1945 und 1990 eine Million „Maßnahmen“ betreut. Erst Ende der 60er-Jahre ließ das nach, weil das Geld für eine staatliche Unterstützung ausging. Die Heim-Opfer können in diesem Bericht vor allem nachlesen, welche Expertenmeinungen für die demütigende Behandlung in den Kurheimen verantwortlich waren. Ein Kinderarzt empfahl 1964 Erziehern mit zynischem Unterton: „Man soll sich dann aber nicht hinreißen lassen, ins Gesicht zu schlagen. Es gibt bessere Stellen“. Zwei seiner Mediziner-Kollegen rieten, „in der ersten Zeit einer Klimakur ein leichtes Schlafmittel am Abend zu geben“. Kurreif waren für die beratenden Ärzte nicht nur magere Kinder, die mehr essen sollten, sondern auch Minderjährige „aus gestörten Familien“ oder wegen eines „gesundheitsschädlichen Einflusses von Großstädten durch Reizüberflutung“. Eine eindeutig politische und soziale Motivation.
Detlef Lichtrauter aus Issum am Niederrhein ist der Vorsitzende des Vereins „Aufarbeitung Kinderverschickung NRW“. Er warnt er vor einer „Verharmlosung“ der Vorgänge. Er will wissen, wer an den Verschickungen verdiente und lässt Ausreden von „anderen Sitten“ oder von vermeintlich erlaubten Ohrfeigen in jenen Jahrzehnten nicht gelten. Er denkt an die Wurzeln der Gewalt möglicherweise schon in der NS-Ideologie und spricht von „Straftaten“ und vom Verfassungsbruch. „Das Wegsperren von Kindern ist eine Form von Freiheitsentzug. Das Eintrichtern von Essen bis hin zu Erbrochenem verstößt gegen die Würde des Menschen, die auch damals schon im Grundgesetz festgelegt war“, sagt er. Verabreichung von Neuroleptika und Psychopharmaka und auch sexuelle Übergriffe hätten strafrechtlich verfolgt werden müssen, wenn es denn eine entsprechende Beaufsichtigung der Ämter gegeben hätte.
Lichtrauter war selbst Kurkind. Bisher betreute und befragte er 600 ehemalige Opfer. „Von zehn Kindern berichten neun von schlimmen, teils sehr schlimmen Begebenheiten.“ Nur ein bis zwei von zehn, eine Minderheit, hätten dagegen positive Erinnerungen.
Zu den 600 gehört der Dortmunder Strötzel. Er wohnt heute am Nordrand des Ruhrgebiets. Seine Erinnerung an den ersten Aufenthalt in Bad Waldliesborn im Alter von vier Jahren ist schwach. Allenfalls verbinde er damit viel „Heimweh“ und „dass mir das Essen nicht schmeckte“, sagt er. Die zweite Kur 1956 in Detmold „war schon verschärft“. Was sich durchzieht in diesem alten Kopffilm ist das Zwangsschlafen. Zwei Stunden mittags – von eins bis drei – in großen Räumen mit 30 anderen Kindern und einem strengen Geruch nach Desinfektionsmitteln. „Wenn man dort die Augen nur aufmachte, kriegte man einen mit der Hand oder dem Stock übergezogen.“ Kontakte zum Leidensgefährten nebenan? Verboten.
Essen in großen Blumenvasen entsorgt
Am Strand in Niendorf fand die Mittagsruhe draußen statt, aber mit Blickrichtung weg vom Meer – damit das Personal die Kinder besser beaufsichtigen konnte. Noch heute sei ihm ein Mittagsschlaf unmöglich, sagt Strötzel. Schlimm seien die Nächte gewesen. „Wir durften nicht zum Klo. Ich habe häufig die ganze Nacht nicht schlafen können aus Angst, ins Bett zu machen.“ Von sexuellen Annäherungen wie in einigen anderen Fällen weiß er nichts.
Dagegen wurden „Essen, Schlafen, Klogehen“ zur Standard-Quälerei im Kinder-Kuralltag, die Strötzel nur heimlich mit Tricks abmildern konnte: „Man kriegte Kohlenhydrate, Kartoffeln, Milchreis. Grüner Salat mit Zucker, weil: Für Kinder muss es ja süß sein. Oder gekochte Steckrüben in Sahne, dazu eine Flasche schwefelhaltigen Heilwassers.“ Man hatte sitzenzubleiben, bis alles vertilgt war. Irgendwann sah der Dortmunder Junge große Vasen neben den Esstischen – und blieb so lange sitzen, bis er allein und unbeobachtet sein Essen im Behälter entsorgen konnte.
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Der Kinderkur-Skandal der Jahre zwischen 1950 und den 80ern hat für viele lebenslange seelische Folgen. Strötzel wirft dem Kur-System der Nachkriegsjahrzehnte aber auch weitergehende Fehlwirkungen vor. Kinder seien fahrlässig vom Schulunterricht ferngehalten worden: „Während der Kuraufenthalte hatten wir keinen Unterricht. Mir fehlte für den Gymnasialbesuch deshalb ein halbes Jahr Schulzeit“.
Dennoch: Strötzel hat sich durchgeschlagen. Er konnte über einen Seiteneinstieg Kunst studieren und wurde ein renommierter Fotograf, der heute internationale Zusammenarbeiten organisiert. „Ich musste mich selbst aus dem Sumpf ziehen.“ Er trampte zum Nordkap, um das Heimweh zu bekämpfen. Einige Orte der „Verschickung“ von einst hat er besucht. In Niendorf an der Ostsee ist er „ohne Schweißausbrüche“ gewesen. „Das eigentlich schöne Oberstdorf“ steht noch auf dem Programm. „Ich habe kein Trauma übrigbehalten“, ist er sicher, im Gegenteil: Es habe ihn stark gemacht. Er habe mit der Erfahrung aus der Kindheit manche Herausforderung im Erwachsenenleben, selbst Zeiten der Arbeitslosigkeit, positiv bewältigen können.
Betroffene fordern Entschuldigung
Erst vor 23 Jahren, im Jahr 2000, schrieb der Bundestag den Paragrafen 1631, Absatz 2 ins Bürgerliche Gesetzbuch (BGB): „Das Kind hat ein Recht auf Pflege und Erziehung unter Ausschluss von Gewalt, körperlichen Bestrafungen, seelischen Verletzungen und anderen entwürdigenden Maßnahmen“. 2019 hat die TV-Journalistin Anja Röhl das Thema der Kur-Kinder breiter recherchiert und öffentlich gemacht. Daraufhin beschäftigte sich der Düsseldorfer Landtag damit.
Für eine direkte strafrechtliche Verfolgung ist zu viel Zeit vergangen. Täterinnen und Täter sind meist verstorben, vermutet auch Vereinschef Detlef Lichtrauter, auch wenn er zuletzt noch eine ältere Erzieherin gesprochen habe, die dabei in Tränen ausgebrochen sei. Ziel der Aufarbeitung müsse es sein, „die Anerkennung des erlittenen Leides“ durch die Träger der Heime und die heute dort Verantwortlichen zu erreichen – „auch, wenn sie nicht persönlich in Haftung genommen werden können“. Das alles müsse „verbunden sein mit einer Entschuldigung“.
Überdies: Zu gleichen Teilen sollen die Träger die unabhängige wissenschaftliche Aufarbeitung der Vorgänge finanzieren. Kann sein, dass Karlheinz Strötzel doch noch erfährt, was in dem grauen, abscheulichen Pulver steckte, das ihm „Tanten“ vor 60 Jahren ins Essen kippten.
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