Essen. Sie lieben alte Digicams und feiern den schrottigen Look: Jugendliche entdecken die 2000er-Jahre wieder - und feiern auch dumme Nokia-Handys.

All die, die in den späten 90er-Jahren oder den frühen Nuller-Jahren geboren wurden, sind fast zwangsläufig mit dem Smartphone verwachsen. Und wer nicht ein ziemlich aktuelles Modell hat, ist eigentlich längst wieder abgesagt. Das Ding macht ja auch alles: Man schießt Fotos damit, man hört Musik, man sendet seine Nachrichten und mancher telefoniert sogar damit – auch wenn das bei den Jüngeren viel seltener vorkommt, als man denken sollte. Vor allem hängt man aber vor Social Media – und das frisst die Stunden des Tages, als hätte es gar keinen Tag gegeben. Was wäre nun aber, wenn man für jede Funktion ein einziges Gerät hätte? Und was, wenn man Social Media gar nicht mehr als ständigen Begleiter dabei hätte? Wie geil wäre das denn?

Immer mehr Mitglieder der Generation Z entdecken gerade jene Technik, die sie bestenfalls noch in ihrer Kindheit kennengelernt haben: Sie schießen sich für ein paar Euro eine der frühen Digicams der Nuller-Jahre, auch wenn sie mit teils miserabler oder sehr eigenwilliger Bildqualität einen ganz eigenen Look haben; sie besorgen sich alte Klapptelefone oder das im Jahr 2017 wieder aufgelegte Nokia 3310, das nur in ein paar Punkten an die Jetztzeit angepasst wurde – und verschicken ihre Nachrichten wieder als SMS. Sie besorgen sich alte MP3-Player oder schlimmer: Walkman mit Kassetten. Und hören ihre Musik mit brachialen Overear-Kopfhörern oder mit verkabelten Kopfhörern der früheren iPhone-Generationen. Oder sie spielen am Gameboy.

Mit dem Klapptelefon und der digitalen Kompaktkamera zu nächsten Party

Experte für die Generation Z: Jugendforscher Klaus Hurrelmann, der lange Zeit in Bielefeld lehrte.
Experte für die Generation Z: Jugendforscher Klaus Hurrelmann, der lange Zeit in Bielefeld lehrte. © epd | Juergen Blume

„Es ist im Grunde die Technik der Jahre kurz bevor sich das Smartphone etabliert hat. Man denkt, das ist ja noch gar nicht so lange her“, sagt Trend- und Jugendforscher Klaus Hurrelmann (79), der natürlich weiß, dass diese Generation eine Welt ohne Smartphone gar nicht mehr kennt. Eine Welt, in der sich die Technik quasi im ein, zwei Jahresrhythmus selbst überholt: „Man ist weggespült worden durch diesen Modernisierungsdreh, dem man hinterherjagt und alle zwei Jahre ein neues Telefon kaufen muss, damit man überhaupt den Anschluss behält“, beschreibt er eine der Belastungen, die mit dem Smartphone kamen. Insofern hat er Verständnis für den Wunsch, sich dem zu entziehen: „Da ist es natürlich auch eine willkommene Sache, erst mal zurückzufallen, Rast zu machen und zu gucken, wie das denn damals mal war. Auch eine Rückvergewisserung eigentlich, dass man nicht weggetrieben wird, sondern irgendwo sogar noch im Boden verankert ist. Dass man sich an einem alten Gerät festhalten kann, sich das Gerät sogar körperlich aneignen kann.“

Wer noch ein altes Nokia 3310 sein Eigen nennt, ist besonders cool, angesagt ist allerdings auch der Nachbau des Kult-Handys aus dem Jahr 2017. Wer diese Telefone nutzt, macht fast schon eine Art Digital Detox
Wer noch ein altes Nokia 3310 sein Eigen nennt, ist besonders cool, angesagt ist allerdings auch der Nachbau des Kult-Handys aus dem Jahr 2017. Wer diese Telefone nutzt, macht fast schon eine Art Digital Detox © IMAGO/YAY Images | imago classic

Es sind maßgeblich zwei Einflüsse, die den rasanten Anstieg der Beliebtheit von vermeintlichem Elektroschrott hervorgerufen haben. Einerseits ist es das modische Revival der frühen 2000er-Jahre, die Low-Rise-Jeans und bauchfreie Tops, Ugg Boots und Baggy Hosen wieder in den Trend gebracht hat, heute in den sozialen Medien gern mit den Hashtags „#y2k core“ oder „#2000s“ versehen. Und mit diesen Kleidungsstücken fing es an, dass man sich auch die dazugehörigen Accessoires zugelegt hat. Auf einmal liefen Models über die Laufstege, die um den Hals die alten verkabelten, strahlend weißen iPhone-Kopfhörer trugen – und sich damit modisch abhoben vom mittlerweile kabellosen Airpods-Trend. Mit dieser Technik einher ging die Wiederentdeckung der alten, kompakten Digitalkameras der ersten und zweiten Generation, die damals eine Sensation darstellten, weil man Bilder immer und überall aufnehmen konnte – auch wenn sie oft nur trashig aussahen und gemessen an der heutigen Schärfe, der geringen Lichtempfindlichkeit und den direkten Blitzen einen geradezu billigen Bildlook erzeugten. Aber in Zeiten, in denen Smartphones Schnappschüsse bis zur vermeintlichen Perfektion aufpolieren, in denen man jedes Bild mit einem Instagram-Filter zu einem Statement machen kann, ist genau die Authentizität und Unperfektheit dieser Aufnahmen wieder gefragt. Es ist einfach emotionaler und realer, wenn das Foto verwackelt oder unscharf ist.

Auf TikTok und Instagram findet sich #digicamlove mehr als eine Milliarde Mal

Mit 7.2 Megapixeln fast nicht mehr im Rennen: Sony Cybershot DSC W55 Digicam.
Mit 7.2 Megapixeln fast nicht mehr im Rennen: Sony Cybershot DSC W55 Digicam. © Sony

Der Trend geht natürlich durch die digitalen Medien: Der Hashtag #digicamlove hat auf TikTok mittlerweile mehr als 10 Millionen, #digicam weist mehr als 500 Millionen Aufrufe auf. TikToker stellen die Kameras, die sie in den Kramkisten ihrer Eltern gefunden, in staubigen Kellerecken aufgetan oder schlicht bei Ebay oder in den Kleinanzeigen geschossen haben, voller Stolz vor: „Darf ich vorstellen, meine neue alte abgeschranzte Digicam. Ich bin verliebt! Was ein geniales Format! Kleiner als mein Smartphone und damit ab sofort immer in meiner Hosen- oder Jackentasche!“ schwärmt Userin Hagarlotte Geyer auf TikTok etwa über eine schon arg ramponierte Sony Cybershot DSC T7. Andere greifen gern zu alten oder nachgebauten Sofortbildkameras.

Der zweite maßgebliche Einflussfaktor ist aus den USA auch in die Sozialen Medien hierzulande gegangen: Auf der Seite businessinsider.com schrieb Lola Shub: „Ich war ein ,Screenager‘, abhängig von meinem Smartphone. Deshalb haben meine Freunde und ich sie weggeworfen und den ,Luddite Club‘ gegründet.“ Eine neue Ludditen-Bewegung, in Deutschland besser bekannt als „Maschinenstürmer“, die zurückgeht auf den fiktiven Arbeiter Ned Ludd, der angeblich im 19. Jahrhundert den durchaus realen Angriff der Arbeiter auf die Webstühle in den englischen Fabriken angestiftet haben soll – ein Protest gegen die Verelendung durch die Industrialisierung.

Lola Shub: „Wir hassten alle unsere Smartphones und das Gepäck, das sie mit sich bringen.“

Aus der Perspektive eines Langzeit-Beobachters sieht Jugendforscher Klaus Hurrelmann sogar eine gewisse Kontinuität in der Bewegung. „Das sind Wellen, die wir immer mal wieder beobachten. Wir hatten das ungefähr vor zehn Jahren. Junge Leute griffen wieder zum Häkelzeug und fingen an, etwas Handwerkliches zu machen. Smartphones hingegen haben wenig Haptisches.“

Dass der moderne Luddismus eine Revolution gegen die sozialen Medien und die Smartphone-Nutzung darstellt, darf bezweifelt werden. . Zwar schreibt Lola Shub: „Wir hassten alle unsere Smartphones und das Gepäck, das sie mit sich bringen: Die unermüdliche Nutzung von Social Media, das endlose Scrollen, die Schnappschüsse und Selfies.“ Dennoch schließen auch die Mitglieder des „Luddite-Club“ die Nutzung von Social Media nicht aus – sondern organisieren sich sogar darüber. Die Revolution ist also eine sanfte, die eher einem Aufruf zum Digital Detox gleichkommt.

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