Essen. Im Tarifstreit der Länder rufen Gewerkschaften zum Warnstreik auf. Vier Menschen sagen, worum es geht und was Bürgern droht.

Nordrhein-Westfalen steht ein landesweiter Warnstreik ins Haus: Im öffentlichen Dienst der Länder haben über ein Dutzend Gewerkschaften ihre Mitglieder aufgerufen, am Dienstag ihre Arbeit niederzulegen. Vor dem Düsseldorfer Landtag soll es eine Groß-Demonstration geben. Rund 15.000 Menschen werden erwartet - Angestellte in den Polizeidienststellen und Finanzämtern, an Unikliniken und Hochschulen, Lehrkräfte und Justizvollzugsangestellte. Erwartet wird, dass auch Beamtinnen und Beamte, die vom Streikrecht ausgenommen sind, in ihrer Freizeit den Protest unterstützen.

Denn der Frust ist gewaltig unter den Betroffenen. Seit Wochen laufen kleinere Warnstreiks vor allem an Schulen und Universitäten, in denen Beschäftigte mehr Geld und Wertschätzung einfordern und sich dadurch vor allem eines erhoffen: mehr Kolleginnen und Kollegen.

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Die Gewerkschaften wollen für die bundesweit rund 1,2 Millionen Tarifbeschäftigten 10,5 Prozent mehr Lohn erringen, mindestens aber 500 Euro mehr im Monat, und Verbesserungen für junge Berufseinsteiger und Studierende erreichen. Da ein Tarifabschluss zumeist auf die Beamtinnen und Beamten übertragen wird, geht es ums Geld für bundesweit 2,5 Millionen Beschäftigte - und etwa eine halbe Million Menschen in NRW. Die Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) hatte die Forderungen bislang als zu hoch zurückgewiesen und in den ersten zwei Verhandlungsrunden im laufenden Tarifkonflikt kein eigenes Angebot vorgelegt.

IT-Fachmann bei der Polizei: Weil eigene Leute fehlen, helfen teure externe Berater aus

Jens Haug arbeitet als IT-Experte beim LPZD in Duisburg und kritisiert als Gewerkschafter, dass der Lohnabstand zur freien Wirtschaft seit Jahren steige.
Jens Haug arbeitet als IT-Experte beim LPZD in Duisburg und kritisiert als Gewerkschafter, dass der Lohnabstand zur freien Wirtschaft seit Jahren steige. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Das treibt auch Jens Haug auf die Straße – und zwar zum ersten Mal. Erst seit kurzem ist der angestellte IT-Fachmann am Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste NRW in der Gewerkschaft der Polizei (GdP) aktiv. Dienstag ist Haugs erster Streiktag, erstmals nimmt er an einer Demonstration teil.

„Vom Meckern ändert sich nichts“, sagt der 56-jährige Gewerkschafter. Und was sich ändern muss, schiebt er gleich hinterher: der Lohn für die immer wichtiger gewordene Arbeit der IT-Fachleute. „Wir haben bei der Polizei die höchsten Anforderungen an die IT im Kampf gegen die organisierte Kriminalität, aber diesem Anspruch wird man finanziell nicht gerecht.“ Wenn sich das nicht verbessere, werde es nicht gelingen, junge gute Leute zu gewinnen.

Das Gegenteil sei derzeit der Fall: Erfahrene Kollegen wanderten ab – in Bundeseinrichtungen oder Unternehmen. „IT-Fachkräfte sind eine gefragte Kapazität.“ Die Lohnlücke zur freien Wirtschaft sei enorm, aber selbst als Bundes-Beschäftigter verdiene man auch wegen des letzten guten Tarifabschlusses dort zehn Prozent mehr.

Etwa 1000 Stellen für Tarifbeschäftigte der Polizeien sind nach Angaben der Gewerkschaft der Polizei (GdP) derzeit unbesetzt. Eine Folge bei der IT: Für nahezu jedes Projekt müssten externe Fachkräfte teuer eingekauft werden, weil eigene Leute fehlten, sagte Haug. Der Duisburger befürchtet, dass sich die Digitalisierung der Polizei verlangsamen werde, wenn es so weitergeht. „Die Polizei muss konkurrenzfähig gegen die Klientel sein, die sie überwachen soll.“

Lehrermangel an den Schulen in NRW: Jeden Tag wird fachfremd unterrichtet

Gabriele Wegner (63) arbeitet an einer Gesamtschule in Duisburg. Als Personalrätin ist die freigestellt und aktiv in der Bildungsgewerkschaft GEW NRW. Sie sagt: Weil Lehrkräfte fehlen, wird täglich fachfremd unterrichtet. Mehr Gehalt schaffe Wertschätzung.
Gabriele Wegner (63) arbeitet an einer Gesamtschule in Duisburg. Als Personalrätin ist die freigestellt und aktiv in der Bildungsgewerkschaft GEW NRW. Sie sagt: Weil Lehrkräfte fehlen, wird täglich fachfremd unterrichtet. Mehr Gehalt schaffe Wertschätzung. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Im gesamten öffentlichen Dienst des Landes NRW sind rund 26.000 Stellen offen. Vor allem an den Schulen ist der Mangel gewaltig: In einigen Städten kann man lange nach einer Schule suchen, deren Kollegium vollständig besetzt ist. Eine Konsequenz: Täglich unterrichteten Lehrkräfte in Fächern, die sie eigentlich nicht studiert haben, berichtet Gabriele Wegner, Personalrätin aus Duisburg.

„Das wird zum Teil von Anfang an eingeplant“, so die Fachfrau der Erziehungsgewerkschaft GEW NRW. Sich einzuarbeiten, sorge nicht nur für noch mehr Arbeit, sondern auch für Unzufriedenheit: „Wenn jemand nur drei Seiten weiter ist im Lehrbuch als die Schüler, dann bietet das keine Sicherheit.“ Eltern und Kinder spürten den Lehrermangel längst, wenn Kunst- und Musikunterricht gekürzt oder Bio- und Physikunterricht nur im Wechsel stattfinden könnten.

Ein hoher Tarifabschluss schaffe Wertschätzung, die nicht nur der Lehrerberuf dringend benötige, findet Wegner: Seiteneinsteiger und Multiprofessionelle Teams, die den Personalmangel an den Schulen abfedern sollen, verdienten deutlich weniger. Hier sei jedes Gehaltsplus wichtig.

Dortmunder Lehrer sorgt sich: Seiteneinsteiger und Fachkräfte könnten abwandern

„Es gibt immer neue Aufgaben on top, aber das Gehalt ist gleich geblieben und real haben wir sogar Geld verloren“, sagt Martin Heuer, Hauptschullehrer aus Dortmund. Der letzte Tarifabschluss sei ein „Nackenschlag“ gewesen.
„Es gibt immer neue Aufgaben on top, aber das Gehalt ist gleich geblieben und real haben wir sogar Geld verloren“, sagt Martin Heuer, Hauptschullehrer aus Dortmund. Der letzte Tarifabschluss sei ein „Nackenschlag“ gewesen. © Privat | Privat

Denn das Risiko sei, dass diese Kräfte, die den Lehrermangel ja abfedern sollen, den Schulen sonst wieder verloren gingen, ergänzt Martin Heuer, Hauptschullehrer aus Dortmund und ebenfalls GEW-Gewerkschafter. „Seiteneinsteiger überlegen, zurück in ihren Beruf zu gehen und Sozialarbeiter suchen sich lieber was bei den Kommunen, die wegen ihres guten Tarifabschlusses dieses Jahr besser bezahlen.“

Heuer spricht von einem hohen Druck im Schulalltag, davon, dass Schulklassen alle zwei Wochen anders aussähen, weil etwa neue Flüchtlingskinder hinzukämen, dass man zwar neue IT erhalte, aber sich die Handhabung nebenbei selbst beibringe. „Es gibt immer neue Aufgaben on top, aber das Gehalt ist gleich geblieben und real haben wir sogar Geld verloren.“ Besonders viele treibe deshalb noch der Ärger über den letzten Tarifabschluss für die Länder auf die Straße: 2021, im zweiten Coronajahr, gab es gerade einmal 2,8 Prozent mehr. „Das war ein Nackenschlag.“

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Frust im Finanzamt: 1500 freie Stellen und im einträglichen Außendienst fehlen Leute

Der Frust ist aber auch groß in den Finanzämtern. Rund 1500 der 24.000 Stellen in den NRW-Behörden sind nach Angaben der Deutschen Steuer-Gewerkschaft (DSTG) derzeit unbesetzt, weil deutlich mehr Menschen in den Finanzämtern in den Ruhestand gehen als junge Leute nachkommen. Der Landesvorsitzende der DSTG NRW, Manfred Lehmann, pocht vor allem auf eine Angleichung zum Tarif für die Städte und den Bund: „Wenn wir 100 Leute an die freie Wirtschaft verlieren, gehen noch einmal 180 in die Städte. Das macht uns zu schaffen.“

Im jüngsten Tarifabschluss für die Beschäftigten der Städte und des Bundes haben die Gewerkschaften nach heftigen Warnstreiks und Schlichterverfahren zwischen acht und 16 Prozent mehr Gehalt herausgeholt.

Manfred Lehmann ist der Landesvorsitzende der Deutschen Steuer-Gewerkschaft (DSTG). Fachkräfte wanderten an die Kommunen ab, wo der jüngste Tarifabschluss deutlich über dem der Länder lag.
Manfred Lehmann ist der Landesvorsitzende der Deutschen Steuer-Gewerkschaft (DSTG). Fachkräfte wanderten an die Kommunen ab, wo der jüngste Tarifabschluss deutlich über dem der Länder lag. © FUNKE Foto Services | Jörg Schimmel

Entlastungen in den Ämtern böten zwar maschinelle Prüfungen von Steuerunterlagen. Aber gerade im Außendienst, bei Betriebsprüfungen etwa, spüre man den Mangel enorm. „Wir haben eine höhere Schlagzahl, weniger Zeit für den einzelnen Fall“, sagt Lehmann. Damit schwäche das Land einen Bereich, in dem Geld verdient werde.

>>> Verhandlungsführer der Länder: Angebot liegt vor

Am 7. und 8. Dezember beginnt die entscheidende dritte Verhandlungsrunde im Tarifstreit des öffentlichen Dienstes der Länder in Potsdam. Verhandlungsführer der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) ist Hamburgs Finanzsenator Andreas Dressel. Gegenüber dieser Redaktion betont Dressel, dass die TdL durchaus ein Angebot vorgelegt habe: Danach wolle man sich am Tarifabschluss im öffentlichen Dienst der Kommunen und des Bundes (TVöD) orientieren. Anfang des Jahres einigten sich die Konfliktparteien dort auf Sonderzahlungen, Sockelbeträge und lineare Gehaltssteigerungen von 5,5 Prozent.

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„Die TdL hat in den Verhandlungen die Übernahme der Struktur des TVöD-Abschlusses und ein Volumen deutlich oberhalb des letzten TVL-Tarifergebnisses angeboten“, sagt Dressel dieser Redaktion. „Außerdem haben wir zu allen anderen Forderungen der Gewerkschaften Möglichkeiten aufgezeigt, wie man den Anliegen der Gewerkschaften in einem für die Länder machbaren Umfang Rechnung tragen kann.“