Essen. Ermäßigte oder volle Umsatzsteuer? Obstbauern und Veganer fühlen sich benachteiligt und sehen Lindner am Zug. So reagiert das Finanzministerium.

Wer das verstehen will, muss nicht nur Steuerrechtsschinken fressen, sondern auch seinen gesunden Menschenverstand ausschalten: Was in Deutschland dem ermäßigten und was dem vollen Mehrwertsteuersatz unterliegt, ist auch auf den zweiten Blick in vielen Fällen kaum nachvollziehbar. Smoothies etwa kommen mit sieben Prozent Mehrwertsteuer davon, auf Saft werden 19 Prozent fällig. Mit der Kuhmilch meint es der Fiskus gut, mit der Hafermilch nicht so. Selbst Adventsgestecke aus frischen und getrockneten Zweigen werden steuerrechtlich in Gut und Böse unterteilt.

Bundesrechnungshof: Reform lange überfällig

Eine Reform sei „lange überfällig“, urteilt der Bundesrechnungshof in seiner jüngsten Analyse zur ermäßigten Mehrwertsteuer aus diesem Jahr. Im Internet kursieren etliche Petitionen für die ermäßigte Besteuerung bestimmter Produkte, aktuell für Pflanzenmilch, die längst nicht mehr nur in vegetarischen Haushalten in den Kaffee und das Müsli kommt. Bundestagsabgeordnete von SPD und Grünen haben sich der Forderung unlängst angeschlossen. Doch Finanzminister Christian Lindner (FDP) will wie alle seine Vorgänger da nicht grundsätzlich ran. Denn wer das wagt, startet einen Marathon durch die deutsche Lobbylandschaft. „Es ist derzeit nicht geplant, die Systematik zu verändern“, lautet die offizielle Antwort des Ministeriums auf unsere Anfrage.

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Warum überhaupt viele Lebensmittel und andere Dinge geringer besteuert werden als andere, gerät dabei fast in Vergessenheit: Auch Menschen mit wenig Geld sollen sich in Deutschland Grundnahrungsmittel leisten können. Hinzu kommen weitere Dinge des täglichen Bedarfs, auf die sich schwer verzichten lässt, etwa Monatshygieneartikel und Brennholz. Auch Blumen, Bücher, Zeitungen, Theater- und Konzerttickets sollen für die breite Masse bezahlbar bleiben.

Verstehen Sie unser Mehrwertsteuersystem? Zehn Beispiele (ohne Berücksichtigung der befristeten Ausnahme für die Gastronomie):

Milchkaffee to go 7% - Kaffee mit Milch to go 19%

Kuhmilch 7% - Hafermilch 19%

Smoothie 7% - Saft 19%

Adventsgesteck aus frischen Zweigen 7% - Adventsgesteck aus getrockneten Zweigen 19%

Tampons/Binden 7% - Babywindeln 19%

Pommes/Currywurst im Imbiss am Stehtisch 7% - Pommes am Tisch (19%)

Pommes am Stehtisch in Einwegschale 7% - Pommes am Stehtisch auf Porzellanteller (19%)

Riesengarnele 7% - Languste 19%

Hotelübernachtung 7% - Frühstück im Hotel 19%

Maulesel 7% – Esel 19%

Das Problem mit den Ausnahmen ist laut Bundesrechnungshof: Je mehr es gibt, desto angreifbarer werden sie. Weil natürlich jeder Hersteller sein Produkt für unersetzbar hält. Weil aber die Mehrwertsteuer nach der Einkommensteuer die zweitgrößte Einnahmequelle des deutschen Staates ist, die Bund und Ländern zuletzt rund 250 Milliarden Euro im Jahr brachte, tut sich jeder Finanzminister schwer, neue Ausnahmen zu genehmigen. Nicht ohne Grund hat sich die Liste mit den niedriger zu besteuernden Produkten seit Einführung des Mehrwertsteuersystems 1968 kaum verändert.

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Weshalb sie sich zuweilen wie eine Kuriositätensammlung aus dem Museum liest: Dass etwa 19 Prozent Umsatzsteuer zahlt, wer einen Esel erwirbt, aber nur sieben, wer einen Maulesel kauft, hat sehr offensichtlich nichts mit der Grundversorgung der heutigen Bevölkerung zu tun. Auch nicht die Besserstellung von Kaninchen zu Meerschweinchen, die daher rührt, dass in den 60er-Jahren noch der ein oder andere seine Kaninchen geschlachtet und gegessen hat.

Mehrwertsteuer: Kaninchen sind günstiger, weil man sie schlachten kann

Als eine der wenigen Änderungen hat der Staat immerhin darauf reagiert, dass der Sauerbraten inzwischen meist vom Rind statt vom Pferd kommt. Bis 2012 galt das Kaninchen-Argument auch für Pferde, was in der Praxis jahrzehntelang vor allem Besserverdiener entlastet hat, die sich ein neues Pferd oder ein Pony für die Kleinen gekauft haben. Ansonsten hat sich die Umsatzsteuer so gut wie nicht an die Ess- und Trinkgewohnheiten angepasst. Anders ist der Unterschied zwischen Riesengarnele (7%) und Languste (19%) schwer zu erklären oder eben zwischen Kuhmilch (7%) und Hafermilch (19%), die es in den Sechziger-Jahren so schlicht noch nicht gab.

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Eine der ganz wenigen neuen Ausnahmen mussten sich die Frauen in Deutschland hart erkämpfen – den ermäßigten Satz für Tampons und Binden. Bis weit in die Nachkriegszeit hinein war das Thema Monatshygiene noch immer tabu und schambehaftet. Anders ist nicht zu erklären, dass noch in den Sechzigern der Gesetzgeber aus dem 19. Jahrhundert stammende waschbare Alternativen als Standard setzte, als längst fast alle Frauen praktischere Einmalartikel kauften. Das ist nebenbei bis heute der Grund dafür, dass Babywindeln noch immer voll besteuert werden. Mama und Papa können ja Stoffwindeln nehmen und waschen, auch wenn das fast niemand mehr macht.

Apfelbauer Schmücker kritisiert: Saft wird besteuert wie Cola

Bisher keine Rolle spielt bei der Mehrwertsteuer, ob Lebensmittel gesund sind, auch hier geht der Fiskus nicht mit der Zeit. Der Apfelsaft wird so hoch besteuert wie Cola – und eben auch höher als ein Smoothie. Eberhard Schmücker, dessen Äpfel aus Bottrop in vielen Supermärkten liegen und der aus einem Teil auch Saft macht, versteht das nicht. Sein direkt gepresster Apfelsaft habe „die geringstmögliche Veredelungsstufe“, während ein Smoothie aus vielen Früchten deutlich stärker verarbeitet sei. Allein aus Nachhaltigkeitsgründen müsse der Staat diese Steuersystematik „dringend neu und zeitgemäßer gestalten“, sagt Schmücker.

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So sieht es auch die Verbraucherorganisation Foodwatch und fordert, die Mehrwertsteuer auf Obst und Gemüse ganz zu streichen. „Das würde den Kauf gesunder Lebensmittel erschwinglicher machen“, sagte Foodwatch-Sprecher Dario Sarmadi unserer Redaktion. Ein Nullsteuersatz auf lebensnotwendige Güter ist erst seit 2022 möglich, als die EU-Kommission die Mehrwertsteuerrichtlinien für die Mitgliedsstaaten geändert hat.

Foodwatch für Abgabe auf gezuckerte Getränke

Grundsätzlich sieht Foodwatch die Mehrwertsteuer aber nicht als den einzigen Hebel des Staates an, eine gesündere Ernährung zu fördern. „In Großbritannien etwa hat sich eine Herstellerabgabe für gezuckerte Getränke bewährt“, sagt Sarmadi, „das hat die Hersteller dazu veranlasst, den Zuckergehalt zu senken, um der Abgabe zu entgehen.“

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Die Klimaverträglichkeit von Lebensmitteln und anderen Produkten spielt bei der Steuerbemessung ebenfalls noch keine Rolle, doch das will die EU nun ändern. Sie hat bei der Mehrwertsteuer nicht nur die Möglichkeit geschaffen, sie für bestimmte Produkte ganz abzuschaffen, sie fordert die Staaten auch auf, die Umwelt- und Klimaverträglichkeit der Produkte zu berücksichtigen. So sollen die EU-Mitglieder bis 2030 alle ermäßigten Steuersätze auf Gegenstände und Dienstleistungen abschaffen, die der Umwelt und dem Klima schaden.

Finanzminister Lindner würde Ausnahme für Gastronomie verlängern

Einen Anlass für eine Reform in Deutschland sieht das Bundesfinanzministerium darin bis dato nicht, wie die Antwort auf unsere Fragen erkennen lässt. Allerdings betont Lindners Haus, „hinsichtlich des ermäßigten Steuersatzes für gastronomische Leistungen hat der Bundesfinanzminister bereits mehrfach seine Sympathie für eine Fortführung geäußert“.

Seit Monaten arbeitet die Gastrolobby in Berlin daran, die bis zum Jahresende befristete Senkung der Mehrwertsteuer auf Restaurantgerichte beizubehalten. Der ermäßigte Satz ist in den vergangenen Jahren zum Instrument der Krisenabwehr geworden, was den Betrieben geholfen, aber nicht mehr Geringverdiener in ihre Gaststätten geholt hat. Die können sich den Restaurantbesuch weniger denn je leisten, weil der trotz ermäßigter Steuer so teuer wie nie ist.

Mehrwertsteuerregeln beißen sich mit Mehrweg-Pflicht für Gastronomie

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Würde, wie gesetzlich vorgesehen, die Steuer auf vor Ort verzehrte Speisen 2024 wieder auf 19 Prozent steigen, hätte die Branche auch eine ihrer größten Absurditäten zurück: Wer im Imbiss am Stehtisch seine Pommes in der Papp- oder Plastikschale isst, zahlt sieben Prozent Mehrwertsteuer. Liegen die Pommes auf einem Porzellanteller, werden 19 Prozent fällig – weil das Spülen des Tellers als Dienstleistung gilt, das Wegwerfen des Einweggeschirrs nicht. Wie das zur neu geschaffenen Mehrwegpflicht und dem Ziel der Müllvermeidung passt, müssten Finanzminister Lindner und Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) dann mal diskutieren.