Köln. Mit dem SUV Atto 3 wollen die Chinesen den VW ID.4 angreifen, mit dem Seal die Tesla-Limousine Model 3. Wir haben getestet, ob das gelingen kann.
Die ehemalige Seidenstraße war, was den Automobilexport angeht, jahrzehntelang eine Einbahnstraße in Richtung Osten. Jetzt geht es auch umgekehrt und die ersten E-Autos aus China drängen auf den deutschen Markt. BYD, Abkürzung für „Build Your Dreams“, schickt unter anderem zwei Mittelklassewagen aus dem Reich der Mitte ins Rennen. Wie traumhaft fahren sich das kompakte Crossover-Modell Atto 3 und die Limousine Seal?
Das Fazit darf vorweggenommen werden: Mit den eher alptraumhaften, komplett gescheiterten ersten Fahrversuchen chinesischer Automarken auf dem anspruchsvollen westeuropäischen Absatzmarkt haben die neuen Herausforderer von BYD, Nio oder Great Wall Motors nichts mehr gemein. Nur zur Erinnerung: 2005 fuhr der chinesische Geländewagen gegen die Mauer des EuroNCAP-Crashtests und blieb mit der Wertung zwei von fünf Sternen unverkäuflich. Der Atto 3 von BYD brachte es auf Anhieb auf die Höchstwertung in Sachen Sicherheit.
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Vielmehr erinnert die erste Testfahrt mit dem Atto 3 und dem gerade erst auf der IAA vorgestellten Seal an den Fahreindruck der ersten Tesla-Limousine Model S: auf Anhieb konkurrenzfähig, ohne dabei in einem Testkapitel eine ausgeprägte Schwäche zu schweigen. Davon waren im Vergleich die koreanischen Newcomer Hyundai, Kia und Daewoo vor einem Viertel- und die vielen japanischen wie Toyota vor einem halben Jahrhundert weit entfernt. Der ADAC gab dem Atto 3 in seinem Test die Gesamtnote 2,1.
Am ehesten Kritik verdient bei beiden BYD-Modellen der kleine Kofferraum (Atto 3: 355 Liter) und die sehr eingeschränkte Rücksicht durch das schmale Heckfenster. Die aggressiv ansprechende Bremse des Atto 3 verlangt nach einer Portion Fußgefühl. Beide sind straff gefedert und rollen auf ihren großen Rädern und verhältnismäßig dünnen Reifen hölzern ab. In Sachen feinfühliger Fahrwerks- und Lenkungsabstimmung machen auch die chinesischen Ingenieure den deutschen noch nichts vor.
BYD wurde als Batteriehersteller groß
BYD startete 1995 als reiner Batteriehersteller, auch Tesla bezieht inzwischen Akkus vom Traumautobauer. BYD rühmt sich, der einzige Produzent von E-Autos zu sein, der alle Komponenten inklusive Software selbst entwickelt. Die 420 kg schwere Batterie im Atto 3 speichert 60 Kilowattstunden, im gemischten Praxisbetrieb fernab des Normverbrauchs ausreichend für eine Reichweite von 350 Kilometern, ein guter Wert. Garantiert wird eine Restkapazität nach 200.000 Kilometern von 70 Prozent.
Die Hälfte der Kapazität des modernen, platz- und halbwegs Ressourcen-sparend aufgebauten Lithium-Eisenphosphat-Akkus soll in einer halben Stunde nachladbar sein, ein eher durchschnittlicher Wert. Durchschnittlich ist auch die Energierückgewinnung beim Bremsen. Auch die stärkere von zwei Rekuperationsstufen geht eher sanft zur Sache.
Mit 150 Kilowatt (rechnerisch entsprechend 204 PS) Elektromotorleistung bringt es der Fronttriebler flott in knapp acht Sekunden auf 100 km/h, bei 160 km/h wird offiziell abgeriegelt. Inoffiziell sollen es 170 km/h sein, verrät ein BYD-Fahrverkäufer. Alle Bedienelemente sind konventionell angeordnet, Verbrennerfahrer sollen sich auf Anhieb in ihrem vielleicht ersten E-Auto zurechtfinden können. Man muss nicht wie etwa beim neuen Smart #1 erst in die Untiefen eines Bildschirmmenüs eintauchen, um nur die Außenspiegel zu verstellen.
Der große Bildschirm in der Mitte des Armaturenbretts lässt sich auf Knopfdruck am Lenkrad senkrecht stellen, ein schöner Gag so wie die gestimmten Gummizüge in den Türtaschen. Ob sie ewig halten, wenn die Kinder immer wieder auf ihnen kleine Melodien üben wollen? Ein anderer Hingucker sind außen die sogenannten Drachenschuppen zwischen Heckscheibe und hinteren Türen.
Gelungene BYD-Optik vom früheren Audi-Chefdesigner Egger
Der von dem deutschen ehemaligen Audi-Chefdesigner Wolfgang Egger ansprechend gestaltete Atto 3 ist mit 4,45 Metern Länge zwischen den Volkswagen-Stromern ID.3 und ID.4 angesiedelt. Ein Billigangebot ist er mit einem Endpreis unter Berücksichtigung der Förderung von rund 40.000 Euro nicht. Erst bei Berücksichtigung der Komplettausstattung mit vielen elektronischen Helferlein und inklusive fünf Jahren Garantie zeigt sich der große Preisunterschied zu den VW-Modellen von 5000 bis 10.000 Euro. Eine Aufpreisliste gibt es bei BYD schlicht nicht, voraussichtlich zu Beginn jedoch auch keine Rabatte.
Ob es in Deutschland wie bereits in China zu einem ruinösen Preiswettbewerb der Anbieter kommen wird, ist zweifelhaft. Eher werden chinesische Importautos durch Strafzölle teurer. Mit dem Instrument hat die EU einst die Flut in Japan gebauter Autos nach Europa eingedämmt.
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Nicht zuletzt über einen sensationellen Preis definiert sich die Stufenhecklimousine Seal mit größerer 82 Kilowattstunden-Batterie. Der Seelöwe bringt in der stärkeren Version mit zwei Motoren 530 PS an alle vier Räder und soll im besten Fall weniger als vier Sekunden für den Spurt auf 100 km/h benötigen, bei 180 km/h ist Schluss. Der Tesla-Jäger von der IAA soll zum Jahresende bei den noch wenigen BYD-Händlern einen Endpreis von 52.000 Euro kosten, 313 PS und Frontantrieb gibt es für rund 47.000 Euro. Ein Traum für Freunde von viel Leistung für wenig Geld, ein Alptraum für ökologisch Denkende, die mal gehofft haben, dass der PS-Wahn mit dem Elektroauto aufhören könnte.