Essen. Förderwirrwarr, Bürokratie und Einzelgängertum: Westenergie-Chefin Reiche spricht Klartext darüber, was beim Wasserstoff-Hochlauf schief läuft.
Als Chefin der Eon-Tochter Westenergie führt Katherina Reiche den größten regionalen Energiedienstleister in Deutschland. Die Tochter Westnetz will eine zentrale Rolle beim Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft im Ruhrgebiet und in NRW spielen. Reiche, die auch dem Nationalen Wasserstoffrat der Bundesregierung vorsitzt, sagt im Interview mit unserer Zeitung, woran es hakt, wo Deutschland besser und schneller werden muss und was wir von der US-amerikanischen Förderoffensive Joe Bidens lernen können und sollten.
Das Ruhrgebiet will die Wasserstoff-Pilotregion Deutschlands schlechthin werden. Wie weit sind wir davon entfernt?
Katherina Reiche: Das Ruhrgebiet und Nordrhein-Westfalen nehmen eine wirtschaftliche Schlüsselposition ein. Jeder fünfte Euro des deutschen Industrieumsatzes wird in NRW erwirtschaftet. Bedeutende Branchen wie Chemie, Eisen, Stahl, Energiewirtschaft haben hier ihre Wurzeln. Sie sind auf die Versorgung mit Wasserstoff angewiesen. Denn: Nicht alle Prozesse lassen sich elektrifizieren. Industrie und Mittelstand brauchen Prozesswärme, also viel und beständig Hochtemperatur zwischen 700 °C und 1200 °C. Bis 2050 wird rund ein Drittel des nationalen Wasserstoffbedarfs in NRW benötigt. Und obwohl es hier vielversprechende Projekte gibt, besteht das Problem darin, dass sie unkoordiniert nebeneinander existieren. Die Folge: Ineffizienz, Informationsasymmetrie, Zeitverlust. Es gilt jetzt die gesamte Wertschöpfungskette hochzufahren. Nur so wird es gelingen, Industrie und Arbeitsplätze im bevölkerungsreichsten Bundesland zu erhalten.
Schwerpunktthema Wasserstoffhochlauf im Ruhrgebiet - unsere Themen:
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Warum ist es so schwer, das „Deutschland-Tempo“ auf die Entwicklung der Wasserstoff-Infrastruktur zu übertragen?
Reiche: Um den Hochlauf entlang der gesamten Wertschöpfungskette und über die unterschiedlichen Marktrollen hinweg anzureizen, ist ein aufeinander abgestimmter Förder- und Handlungsrahmen notwendig. Und genau hier hakt es aktuell. Es braucht bessere Bedingungen für Investitionen und eine pragmatische Förderung von Betriebsausgaben. Wir müssen außerdem weg von der Idee, Regulierungen zu schaffen, die anschließend jedem einzelnen Investitionsvorhaben in seinen individuellen Ausprägungen gerecht wird. Wir brauchen stattdessen unbürokratische Lösungen und Schnelligkeit.
Welche bürokratischen Hürden bremsen Unternehmen wie das Ihre am meisten?
Reiche: Förderinstrumente gibt es theoretisch genug: Die Important Project of Common European Interest (IPCEI), den EU-Innovationsfonds, das Invest EU-Programm oder diverse Töpfe der Europäischen Investitionsbank (EIB). Das Problem: Sie konzentrieren sich zu stark auf Leuchtturmprojekte. Es gibt große Fördertöpfe für Forschung und Entwicklung, aber keine Unterstützung für die kommerzielle Skalierung von Wasserstoff. Hinzu kommen lange Antrags- und Bewilligungszeiten, die den Fortschritt hemmen.
Was wird schwieriger? In wenigen Jahren ein H2-Netz aufzubauen oder die von der Industrie benötigten Mengen an Wasserstoff zu organisieren?
Reiche: Nach Prognosen des Nationalen Wasserstoffrats steigt der Wasserstoffbedarf bis 2045 auf 964 bis 1364 Terawattstunden. Davon werden wir 80 Prozent importieren müssen – bei Derivaten wie Methanol oder Ammoniak sogar mehr. Daher brauchen wir Energiepartnerschaften und robuste Rahmenbedingungen für den Aufbau von Langfristlieferverträgen. Parallel gilt es die Infrastruktur umzubauen. Das H2-Kernnetz ist dabei das entscheidende Fundament. Dabei sind insbesondere die Hochdrucknetze der Verteilnetzbetreiber das Verbindungselement zu den Wasserstoffkunden des industriellen Mittelstands. Denn: Über sie werden heute rund 1,8 Millionen Industrie- und Gewerbekunden versorgt – das sind über 99 Prozent aller Industrie- und Gewerbekunden, die heute Erdgas verwenden. Sie müssen nun rasch per Pipeline mit Wasserstoff versorgt werden.
Reiche: Wir brauchen so etwas wie Bidens IRA
Sind Sie neidisch auf Joe Bidens Inflation Reduction Act (IRA)? Sollte sich die EU ihn zum Vorbild nehmen?
Reiche: Ich sehe den IRA als Ansporn. Fast 400 Mrd. USD investiert der amerikanische Staat in den grünen Umbau seiner Volkswirtschaft. Und damit nicht genug: Die USA arbeiten daran, eine Kreislaufwirtschaft für Kohlenstoff aufzubauen – indem sie Technologien fördert, um CO2 abzuscheiden, zu transportieren, zu speichern oder um daraus flüssige Kraft- und Brennstoffe wie Methanol oder Ethylen herzustellen. Das Ziel: eine kommerzielle Skalierung der Produktionsketten für Transformationstechnologien. Der IRA bietet Investitionssicherheit, Klarheit, Anschlussfähigkeit und Skalierbarkeit. Etwas, was uns in Deutschland und Europa oft fehlt. Unternehmen, die in den USA in Zukunftstechnologien investieren und dadurch CO2 senken, erhalten vom Staat über zehn Jahre garantiert Steuergutschriften und Zuschüsse. Das US-Gesetz schafft Planbarkeit für die Wirtschaft. In Deutschland hingegen geht es viel zu häufig um Planbarkeit für den Staat. Aber: Welche Technologien und Branchen sich durchsetzen, lässt sich weder in Washington, Brüssel oder Berlin vorausplanen. Das entscheidet immer noch der Wettbewerb.