Berlin. Chefvolkswirt Holger Schmieding gibt für 2024 Entwarnung bei Inflation und Konjunkturschwäche – für Anleger hat er einen wichtigen Rat.

Der Arbeitsmarkt ist stabil, doch das Wachstum schwächelt. Die Inflation geht zurück. Dies sind Kernergebnisse der Frühjahrsprognose des Bankenverbands, die dieser Redaktion exklusiv vorliegen. Wir sprachen mit Holger Schmieding, Vorsitzender des Ausschusses für Wirtschafts- und Währungspolitik des Bundesverband deutscher Banken und Chefvolkswirt bei Berenberg, wie die Wirtschaft in Deutschland wieder in Schwung kommen könnte, Zinsen, Immobilienpreise und Folgen der Streiks.

Ihre Aussichten für Deutschland sind düster. Null-Prozent-Wachstum für 2024, schwaches Exportplus. Woran krankt die deutsche Wirtschaft?

Holger Schmieding: Unsere Wirtschaft hat mehrere Probleme. Der Welthandel, von dem Deutschland als Exportnation stärker als andere Länder abhängt, ist sehr schwach und erholt sich 2024 nur langsam. Deutschland war vom „Putin-Schock“, dem explosionsartigen Anstieg der Energiepreise, wegen seiner energieintensiven Industriezweige besonders stark betroffen. Zudem haben wir strukturelle Probleme. Wir brauchen mehr Reformen und weniger Bürokratie. Dies unterscheidet uns zwar nicht von anderen europäischen Ländern, aber von den USA. Deshalb fließen zurzeit mehr Investitionen in die USA als nach Deutschland.

Sind wir wieder der „kranke Mann in Europa“?

Schmieding: Nein. Diesen Begriff hatte ich 1998 für Deutschland verwendet. Doch unsere Lage ist jetzt komplett anders. Heute haben wir Vollbeschäftigung. Unser Arbeitsmarkt ist einer der stärksten der Welt. Deutschland hat neben der Schweiz und Norwegen den am besten finanzierten Staatshaushalt aller entwickelten Ländern. Und wir stecken nicht wie damals in einem Reformstau, sondern haben eine Regierung, die grundsätzlich Reformen möchte. Deutschland ist nicht der kranke Mann in Europa, jedoch strukturell ins europäische Mittelfeld zurückgefallen und konjunkturell an den unteren Rand.

Holger Schmieding ist Chefvolkswirt bei Berenberg und Vorsitzender des Ausschusses für Wirtschaft-und Währungspolitik des Bankenverbands.
Holger Schmieding ist Chefvolkswirt bei Berenberg und Vorsitzender des Ausschusses für Wirtschaft-und Währungspolitik des Bankenverbands. © FUNKE Foto Services | Sergej Glanze

Was müsste verbessert werden?

Schmieding: Reformen sind notwendig. Wir brauchen vor allem eine bessere, digitalisierte öffentliche Verwaltung. Planungs- und Genehmigungsverfahren müssen gestrafft, Bürokratie abgebaut werden. Die Steuerlast der Unternehmen sollte gesenkt werden. Die Erwerbsbeteiligung von Frauen, Älteren und Einwanderern sollte durch Anreize und Reformen erhöht werden. Das Arbeitskräftepotenzial könnte viel besser genutzt werden.

Welche sind derzeit die größten geopolitischen Krisen, die unsere Wirtschaft bedrohen?

Schmieding: Sollte Donald Trump US-Präsident werden, muss sich Europa darauf einstellen, dass es mehr Handelskonflikte geben wird, die lautstärker ausgetragen werden. Diese könnten sich auf unseren Export dämpfend auswirken. Zudem stellen sich dann viele Fragen: Wäre Europa – ohne die USA – bereit, die Ukraine im Krieg mit zusätzlichen Zig-Milliarden Euro zu unterstützen? Welches Signal wäre ein Rückzug der USA aus dem Russland-Konflikt für China und seine Taiwan-Politik? Diese geopolitischen Herausforderungen können sich auf die Wirtschaft auswirken. Unsicherheit ist schädlich für die Wirtschaft.

Droht Deutschland in diesem Jahr, in die Rezession zu fallen?

Schmieding: Eher nicht. Ich sehe sogar die Chance, dass wir 2024 etwas über null Prozent Wachstum liegen können. Die Wirtschaft dürfte sich nach dem Tiefpunkt im ersten Quartal zunehmend besser entwickeln, ab 2025 sogar spürbar besser. 2025 erwarten wir ein Plus von 1,2 Prozent.

Wie sicher sind die Jobs?

Schmieding: Wir erwarten 2024 eine geringfügige Steigerung der Arbeitslosigkeit auf 2,7 Millionen, die aber schon 2025 wieder zurückgeht. Trotz schlechter Konjunktur geht der Arbeitsmarkt nicht in die Knie. Arbeitskräfte sind knapp. Sie werden gebraucht.

Wann erwarten Sie sinkende Zinsen?

Schmieding: Die EZB hat für Juni eine Zinssenkung signalisiert – und da nehmen wir sie beim Wort. Wir erwarten, dass die Zinsen von jetzt 4 Prozent bis zum Frühjahr 2025 schrittweise auf drei Prozent sinken werden.

Die Energiepreise dürften nicht mehr weiter steigen, sagt der Bankenverband.
Die Energiepreise dürften nicht mehr weiter steigen, sagt der Bankenverband. © picture alliance / SZ Photo | Wolfgang Filser

Der private Wohnungsbau leidet aktuell besonders unter der Zinslast. Könnte die Zinswende einen neuen Bauboom auslösen?

Schmieding: Der dürfte zunächst noch rückläufig sein und sich ab Herbst stabilisieren. Belastend sind vor allem die teuren Baumaterialien und die Zinsen. Bei Wohnimmobilien werden wir in diesem Jahr noch den Tiefpunkt der Preise sehen, spätestens 2025 werden sie wieder anziehen. Es gibt einfach zu wenig Wohnraum. Im Büroimmobilienmarkt könnte die Schwäche dagegen anhalten – auch wegen der ungewissen Entwicklung des Homeoffice.

Wie sieht es im Rest der Welt aus?

Schmieding: Wir erwarten, dass die Konjunktur in den USA bei sinkenden Zinsen robust bleibt. Chinas Wirtschaft schwächelt zwar weiter, wird aber den Welthandel nicht so stark belasten wie im vergangenen Jahr. Wir spüren somit weder großen Gegenwind noch Rückenwind aus dem Ausland. Vielmehr erwarten wir, dass die Verbraucher das Geld, das sie durch Lohnerhöhungen und leicht sinkende Energieausgaben mehr in der Tasche haben, auch ausgeben werden. Der Aufschwung kommt weniger aus dem Export, sondern mehr aus dem privaten Konsum. Der „Putin-Schock“ lässt nach.

Deutschland ist zum Protestland geworden. Wie wirken sich die Streiks bei Bahn, Lufthansa & Co auf die Wirtschaftskraft aus?

Schmieding: Zunächst vorab: Gemessen an der Zahl der Streiktage liegen wir in Deutschland im europäischen Vergleich nicht im oberen Bereich. Allerdings wird derzeit fast nur da gestreikt, wo es wirklich wehtut – und nicht alle gleichzeitig, sondern hintereinander: erst die Piloten, dann das Bodenpersonal, das Kabinenpersonal und dann die Lokführer. Das führt dazu, dass der volkswirtschaftliche Schaden pro Streiktag durchaus schmerzhaft ist. Dies kann dazu führen, dass im ersten Quartal die Wirtschaftsleistung um 0,1 oder 0,2 Prozentpunkte sinkt.

Das klingt dramatisch …

Schmieding: Im ersten Quartal: Ja, da tut es weh. Aber das sollte sich im Laufe des Jahres wieder einpendeln, und die Verluste können weitgehend wettgemacht werden.

„Bei den Lebensmittelpreise ist das Schlimmste ausgestanden“, meint der Bankenverband.
„Bei den Lebensmittelpreise ist das Schlimmste ausgestanden“, meint der Bankenverband. © picture alliance/dpa | Julian Stratenschulte

Brauchen wir Tarifabschlüsse, die die Inflationsrate ausgleichen, damit der Konsum wieder ins Laufen kommt?

Schmieding: Ich denke, dass der Lohndruck in Deutschland und der Eurozone vergleichsweise hoch bleiben wird, bei rund vier Prozent. Das heißt aber auch, dass eine erhebliche Wahrscheinlichkeit besteht, dass die Inflationsrate nicht dauerhaft auf zwei Prozent fallen wird, sondern sich letztlich etwas über zwei Prozent einpendeln wird.

Muss die EZB dann nicht wieder gegensteuern und die Zinsen erhöhen?

Schmieding: Dazu gibt es verschiedene Meinungen. Wenn die EZB sich jetzt klug verhält, wird sie ihren Leitzins, den Einlagensatz, in den nächsten zwölf Monaten nur auf drei Prozent senken und nicht stärker – und muss das dann später nicht wieder korrigieren. Wenn die EZB allerdings auf weit unter drei Prozent geht, würde sie die Zinsen Ende 2025 oder Anfang 2026 wieder anheben müssen.

Was bedeutet das für die Verbraucherpreise?

Schmieding: Bei Lebensmittelpreisen ist das Schlimmste ausgestanden. Sie sind hoch, aber steigen kaum noch. Auch bei Energiepreisen ist der große Putin-Schock durch. Es zeichnet sich aber ab, dass die Inflation vor allem bei Dienstleistungen, die stark von den Lohnkosten abhängen, anhalten wird.

Geringste Inflationsrate seit Sommer 2021: Weiterer Rückgang erwartet

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    Schwache Konjunktur einerseits, gleichzeitig erklimmt der DAX ein Rekordhoch nach dem nächsten. Wie passt das zusammen?

    Schmieding: Der Dax ist nicht nur eine Wette auf die deutsche Wirtschaft, sondern auf Zukunft der Weltwirtschaft. Die Unternehmen im DAX sind zwar in Deutschland ansässig, aber sie wirtschaften global. Die hohen Dax-Kurse spiegeln also eine gewisse Hoffnung auf die Weltwirtschaft wider. Zum anderen geht die Börse fast immer bereits wieder hoch, wenn die Konjunktur noch am Boden ist. Wenn unsere Prognosen stimmen, sind wir am Tiefpunkt der Konjunktur angekommen und in Kürze – ab Ostern etwa – geht der Zyklus wieder nach oben. Einen Crash erwarte ich persönlich nicht.

    Was ist Ihr Tipp: Jetzt Investieren oder Sparzinsen mitnehmen?

    Schmieding: Da gehen wir jetzt über die Konjunkturprognose der privaten Banken hinaus. Ich persönlich würde raten zu investieren, allerdings mit einem langfristigen Fokus. Und ich würde ein gewisses Schwergewicht legen auf kleine und mittlere Unternehmen, deren Kurse im letzten Jahr relativ schlecht abgeschnitten haben. Die haben in ihrer Bewertung insgesamt Luft nach oben.

    Und Gold oder Bitcoins?

    Schmieding: Auch das ist meine persönliche Meinung: Wer Action im Portfolio haben will, kann das machen. Allerdings muss man immer wissen: Beides sind spekulative Anlagen, der Bitcoin sogar hochspekulativ. Das sind zwar spannende Themen für risikogeneigte Anleger. Solche Engagements können aber auch schiefgehen.