Bochum. Angespannte Stimmung bei der Hauptversammlung von Thyssenkrupp: Proteste vor der Halle in Bochum, drinnen dominieren ernste Töne.
Für die Aktionärinnen und Aktionäre von Thyssenkrupp, die zur Hauptversammlung möchten, geht am Freitagmorgen kein Weg vorbei an den Beschäftigten. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stehen vor dem Bochumer RuhrCongress Spalier. Trillerpfeifen sind zu hören, rote Fahnen der Gewerkschaft IG Metall wehen. Auf Plakaten stehen Sprüche wie „Lieber fähige Belegschaft als unfähige Manager“ oder „Wir brauchen mehr Mitbestimmung“. Mehr als 200 Beschäftigte von verschiedenen Thyssenkrupp-Standorten aus ganz Deutschland sind nach Bochum gereist, um ein Zeichen zu setzen.
Jürgen Kerner, der Zweite Vorsitzende der IG Metall, und Thyssenkrupp-Konzernbetriebsratschef Tekin Nasikkol ergreifen draußen vor der Tür das Wort, bevor sie sich als Aufsichtsratsmitglieder in die Halle begeben. „Wir brauchen einen Vorstandsvorsitzenden, der aufrüttelt, aber nicht alles einreißt“, ruft Kerner. In der Hand trägt er ein Flugblatt mit dem Slogan „Was soll das, Herr López?“. Nasikkol schimpft: „So kann man kein Unternehmen führen.“
IG Metall attackiert Thyssenkrupp-Vorstandschef López
Die IG Metall geht hart mit Thyssenkrupp-Chef Miguel López ins Gericht. Der Manager versuche, bei Thyssenkrupp die betriebliche Mitbestimmung zu umgehen, sagt Kerner. Es geht insbesondere um die Stahlsparte, bei der etwa 27.000 der rund 100.000 Beschäftigten von Thyssenkrupp arbeiten. López lotet seit einigen Monaten die Chancen für einen Teilverkauf des Thyssenkrupp-Stahlgeschäfts an den tschechischen Milliardär Daniel Kretinsky und sein Energieunternehmen EPH aus. Die IG Metall kritisiert, sie werde dabei zu wenig eingebunden.
Grundsätzlich signalisiert die Gewerkschaft Gesprächsbereitschaft mit Blick auf eine mögliche Verselbstständigung der Stahlsparte mit Hilfe eines Investors. Wenn ein neuer Eigentümer einsteigen wolle, werde sich die IG Metall „nicht dagegen wehren“, sagt Kerner vor der Bochumer Kongresshalle. Die Voraussetzung sei aber, dass es zuvor Gespräche mit den Arbeitnehmervertretern „auf Augenhöhe“ gebe.
Als Thyssenkrupp-Aufsichtsratschef Siegfried Russwurm um Punkt 10 Uhr die Hauptversammlung beginnt, hat sich der Saal schon mit einigen Hundert Aktionärinnen und Aktionären gefüllt. „Wir durchleben schwierige Zeiten – ganz egal, wohin der Blick geht“, sagt Russwurm. Das gelte auch für Thyssenkrupp. „Konjunkturell und strukturell sind die Rahmenbedingungen für uns nicht gut, und das ist eher noch untertrieben.“
Daher, so betont Russwurm, müsse sich der Konzern verändern. „Die Argumentation ,Das haben wir bei Thyssenkrupp noch nie so gemacht‘ oder ,Das bricht mit der Tradition bei Thyssenkrupp‘ hat für mich einen bitteren Beigeschmack“, sagt Russwurm. „Wir sehen, wohin das Unternehmen gekommen ist.“ In Märkten, die bis auf weiteres keinen Rückenwind bieten, „müssen wir das Heft selbst in die Hand nehmen, müssen wir durch eigene Leistung erfolgreich sein“, betont Russwurm. „Auf Hilfe von außen dürfen wir nicht warten.“
López: „Wir können nicht so weitermachen wie bisher“
Russwurm gibt López Rückendeckung. Der Vorstandschef hat sich eine Art Ruck-Rede für die Hauptversammlung vorgenommen. Den Redetext hat der Konzern bereits Anfang der Woche veröffentlicht. „Es muss möglich sein, klar auszusprechen, dass wir bei Thyssenkrupp nicht so weitermachen können wie bisher“, sagt López in Bochum. „Das zu akzeptieren, fällt vielen schwer. Das erzeugt auch Reibungen, wie es ja in diesen Tagen wieder deutlich zu vernehmen ist. Aber zu ignorieren, dass das Unternehmen so nicht weiter machen darf, das wäre unverantwortlich. Und deshalb ist es notwendig, darüber klar zu reden.“
Es dominiert derzeit das Gegeneinander im Konzern: auf der einen Seite die Belegschaftsvertreter, auf der anderen die Eigentümerseite. Dabei betonen beide Lager, dass es doch eigentlich ein gemeinsames Ziel gibt: ein gesundes, erfolgreiches Unternehmen.
„Wir wollen auch stolz sein auf unsere Firma“, sagt Jürgen Kerner draußen vor der Halle. Wenn „der Laden vernünftig läuft“, könnten beide Seiten profitieren: die Aktionäre und die Beschäftigten, so Kerner. Aber läuft der Laden gut? Der Druck ist groß. Zwischenzeitlich hat schon die Erwartung bestanden, Vorstandschef López könnte bald einen Deal zum Stahl mit Kretinsky vorweisen. Doch bislang gibt es kaum Anhaltspunkte dafür, dass es eine schnelle Einigung gibt.
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Neuigkeiten zu einem möglichen Teilverkauf des Stahlgeschäfts verkündet der Thyssenkrupp-Chef bei der Hauptversammlung nicht. Er bleibt bei der Formulierung, es liefen „konstruktive und ergebnisoffene Gespräche“ mit Kretinsky. „Wir wollen so schnell wie möglich zu einem Abschluss kommen“, sagt López. Thyssenkrupp werde sich aber nicht zu „einer zweitbesten Lösung drängen lassen“.
Die IG Metall sei bereit, Veränderungen mitzugestalten, betonten Kerner und Nasikkol bei einer Pressekonferenz am Tag vor der Hauptversammlung. Nasikkol verweist darauf, dass Thyssenkrupp vor nicht allzu langer Zeit noch 170.000 Beschäftigte gehabt habe – und nicht wie jetzt rund 100.000. Unternehmensverkäufe und Stellenabbau seien allerdings fair miteinander verhandelt und gemeinsam beschlossen worden. Wenn jemand auf die Idee komme, der IG Metall eine Blockadehaltung zu unterstellen, dann nehme er das persönlich, schickt Kerner noch hinterher.
Erhöhung der Aufsichtsratsbezüge in der Kritik
Aktionärsvertreter zeigen sich bei der Hauptversammlung in Bochum unzufrieden und ungeduldig. Was sich bei Thyssenkrupp abspiele, erinnere ihn an „absurdes Theater“ und das Stück „Warten auf Godot“, sagt Christian W. Röhl, der Redner der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW). Seit Jahren warteten die Anleger bei Thyssenkrupp darauf, „dass es irgendwann besser wird“, aber es werde nicht besser, urteilt Röhl. An der Börse schlage dem Konzern daher Misstrauen entgegen.
Dass der Aufsichtsrat in einer solchen Lage plane, die eigenen Bezüge kräftig zu erhöhen, sei „instinktlos“. Daher lehne die DSW die Pläne ab. Die Festvergütung der Aufsichtsräte soll um bis zu 40 Prozent steigen. Aufsichtsratschef Russwurm soll 270.000 Euro statt 200.000 Euro im Jahr erhalten. Hinzu kommt noch ein sogenanntes „Sitzungsgeld“.
Auch die Sparkassen-Fondsgesellschaft Deka votiert gegen die Erhöhung der Aufsichtsratsbezüge. „Der Zeitpunkt ist mehr als unglücklich“, sagt Deka-Manager Ingo Speich in Bochum. „Es gibt einen guten Grund, warum die Aufsichtsratsvergütung in den vergangenen zehn Jahren nicht erhöht wurde. Sie brauchen nur auf den Aktienkurs zu schauen. Unser Vorschlag: Bei einer deutlich besseren Aktienkursentwicklung oder einem Aufstieg in den Dax erscheint die Anhebung gerechtfertigter.“
Mutter von Refat Süleyman spricht bei der Hauptversammlung
Es ist ein emotionaler Moment, als Gülseren Dalip, die Mutter von Refat Süleyman, die Hauptversammlungsbühne betritt – begleitet von dem Sohn eines Thyssenkrupp-Arbeiters, der ihre Rede vorträgt. Der türkischstämmige Bulgare, der als Reinigungskraft auf dem Stahlwerksgelände in Duisburg gearbeitet hat, ist im Oktober 2022 in einer Schlammgrube erstickt und erst nach einer tagelangen Suche aufgefunden worden.
Auch weit mehr als ein Jahr danach ist nicht geklärt, wie es zu dem Tod auf dem Thyssenkrupp-Areal kommen konnte. „Keiner übernahm die Verantwortung für seinen Tod“, klagt Gülseren Dalip. Sie sei einfach im Stich gelassen worden. „Wir fühlen Ihren Schmerz“, antwortet Thyssenkrupp-Vorstand Oliver Burkhard. Er ließ aber offen, ob und wie es Unterstützung für die Hinterbliebenen von Refat Süleyman geben könnte.