Berlin. Christiane Benner fordert ein gigantisches Sondervermögen für die Industrie - und sagt, ob sie von protestierenden Bauern lernen will.

Gewerkschaftschefin Christiane Benner fürchtet um Wohlstand und Demokratie. Die erste Frau an der Spitze der IG Metall sagt beim Besuch in unserer Redaktion, was sie jetzt vom Staat erwartet – und was auf die Menschen im Land zukommen könnte.

Bauern und Lokführer versuchen, das Land lahmzulegen. Geht Ihnen das Herz auf, wenn Sie die Blockaden sehen, Frau Benner?

Christiane Benner: Ich mache mir eher Sorgen wegen der Polarisierung. Wenn die IG Metall zu Arbeitsniederlegungen aufruft, ist das sorgfältig abgewogen und verantwortungsvoll. Die Bauernproteste stehen massiv im Risiko, von radikalen Parteien unterwandert zu werden. Ich verstehe, dass einige Bauern wirtschaftliche Sorgen haben. Aber ich frage mich, wie man den ausufernden Protest wieder einfängt. Die Politik hat die Subventionskürzungen zu einem größeren Teil wieder zurückgenommen. Das hat trotzdem nicht zur Beruhigung geführt.

Christiane Benner steht seit 2023 als erste Frau an der Spitze der Industriegewerkschaft Metall (IG Metall). Benner ist in Aachen geboren und studierte Soziologin.
Christiane Benner steht seit 2023 als erste Frau an der Spitze der Industriegewerkschaft Metall (IG Metall). Benner ist in Aachen geboren und studierte Soziologin. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Die Landwirte fordern eine vollständige Rücknahme der Kürzungen.

Benner: Ich denke, wir müssen hier weiter blicken. Die Probleme der Landwirtschaft liegen tiefer – auch im Preisdiktat der Lebensmittelkonzerne. Die Unzufriedenheit war schon vorher vorhanden. Die Kürzungsmaßnahmen jetzt haben lediglich das Fass zum Überlaufen gebracht. Man hätte die Streichung der Beihilfen besser erklären müssen.

Überziehen auch die Lokführer, wenn sie mehr Lohn für weniger Arbeit fordern – und über Wochen streiken? Oder liefern sie die Blaupause für die Tarifverhandlungen in der Metall- und Elektroindustrie?

Benner: Für die Tarifrunde im Herbst befragen wir die Beschäftigten in den Betrieben, welche Forderung sie für angemessen halten. Auf Basis dessen werden wir im Sommer unsere Forderung beschließen. Diese muss und wird auch die sehr unterschiedliche wirtschaftliche Situation in den Unternehmen berücksichtigen. Manche werden auf den Hauptversammlungen Renditen im zweistelligen Prozentbereich präsentieren, anderen machen die gestiegenen Energiepreise zu schaffen.

Der Druck der Inflation und immer noch hoher Lebenshaltungskosten kommt in allen Belegschaften an – auch bei unseren Facharbeitern und Ingenieuren. Ich vermute, dass die Beschäftigten sich stark auf eine Entgelterhöhung fokussieren werden.

Wollen Sie ein zweistelliges Lohnplus durchsetzen?

Benner: Ich vertraue auf die Schwarmintelligenz unserer Mitglieder, und die sind sehr selbstbewusst. Sie haben aber gleichzeitig ein feines Gespür für die Situation in ihren Betrieben.

Wie weit geht die IG Metall, um ihre Forderungen durchzusetzen?

Benner: So weit wie nötig. Wenn es sein muss, machen wir betriebliche Aktionen: Warnstreiks, 24-Stunden-Warnstreiks. Was es eben braucht. Wir sind gut organisiert in den Betrieben.

Straßenblockaden wie jetzt bei den Bauern schließen Sie aus?

Benner: Ich bin zuversichtlich, dass wir unsere Forderungen auch weiterhin ohne Blockaden durchsetzen können.

Aber offenkundig nicht ohne Streiks. Ist diese Form des Arbeitskampfs nicht aus der Zeit gefallen?

Benner: Nein. Ich finde es überhaupt nicht veraltet, wenn Menschen das Bedürfnis haben, gemeinsam für eine Forderung auf die Straße zu gehen. Was soll man denn sonst machen, um sichtbar zu werden? Arbeitsniederlegungen sind das einzige Instrument, mit dem wir ökonomischen Druck ausüben können. Streik ist ein von der Verfassung geschütztes Mittel und unser Weg, unsere Anliegen durchzusetzen. Und nach Corona waren unsere Warnstreiks sogar therapeutisch.

Therapeutisch?

Benner: Schauen Sie: Viele Leute haben zu Hause gesessen, waren in Kurzarbeit oder im Homeoffice. Protest und Solidarität bringen Menschen auch emotional zusammen.

Eine kostspielige Therapie, die keine Krankenkasse übernimmt.

Benner: Die Streiks bezahlen unsere Beschäftigten selbst. Sie verzichten für die Zeit auf ihr Entgelt. Unsere Gesellschaft polarisiert sich brutal. Da ist es doch gut, wenn sich Beschäftigte für eine gemeinsame Forderung einsetzen.

Zur Person

Christiane Benner, geboren 1968 in Aachen, steht seit Oktober 2023 als erste Frau an der Spitze der IG Metall, der sie seit 1988 angehört. Zuvor war sie bereits acht Jahre lang stellvertretende Chefin der Gewerkschaft. Benner machte nach dem Abitur eine Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin und arbeitete mehrere Jahre in diesem Beruf. Anschließend studierte sie Soziologie in Marburg, Chicago und Frankfurt. Benner ist Mitglied der SPD und sitzt in den Aufsichtsräten von BMW und Continental.

Ein Streik polarisiert doch auch.

Benner: Inwiefern denn? Die Leute gehen auf die Straße, um bei den Arbeitgebern höhere Löhne durchzusetzen. Sonst bewegt sich halt nichts. Aber wir als IG Metall haben es immer geschafft, wieder auf eine Landebahn zu kommen und eine Lösung zu finden, mit der beide Seiten leben können.

In einem Boot sitzen Arbeitgeber und Gewerkschaften, wenn es um den ökologischen Umbau der Industrie geht. Was erwarten Sie von der Politik?

Benner: Wir brauchen riesige Investitionen, um klimaneutral zu werden. Ganz entscheidend wird sein, dass wir die Energie für die Stahlproduktion in Deutschland aus Wasserstoff gewinnen. Grüner Stahl wird auch die CO₂-Bilanzen der Automobilindustrie verbessern. Aber diesen grundlegenden Umbau wird unsere Industrie nicht alleine schaffen. Dafür brauchen wir den Staat.

Dem Staat fehlt Geld – erst recht nach dem Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts.

Benner: Die Industrie befindet sich in der kritischsten Phase seit Gründung der Bundesrepublik. Eine starke Industrie mit guten und sicheren Arbeitsplätzen bedeutet Wohlstand und stabile Demokratie. Wir halten uns noch ganz gut. Deutschland hat eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten unter den Industriestaaten. Aber wir müssen dringend große Pflöcke einschlagen und die richtigen Entscheidungen treffen, wenn wir verhindern wollen, dass etwas ins Rutschen gerät.

Welche Entscheidungen?

Benner: Zuallererst: Wir müssen die Schuldenbremse reformieren.

Die Zweidrittelmehrheit im Bundestag, die Sie dafür brauchen, ist nicht in Sicht.

Benner: Die Alternative wäre, ein Sondervermögen aufzumachen für den ökologischen Umbau der Industrie. Wir müssen die industrielle Wertschöpfung im Land halten, damit wir Leitmarkt und Exportnation mit zahlreichen guten Arbeitsplätzen bleiben!

Ein Sondervermögen in welcher Größenordnung?

Benner: 500 bis 600 Milliarden Euro bis zum Jahr 2030. Das ist viel. Aber diese Summe wird nötig sein, damit der Ausbau der Erneuerbaren Energien wie Wind und Solar und der Aufbau der Wasserstoffinfrastruktur gelingt. Das Sondervermögen sollten wir im Grundgesetz verankern, das muss wasserdicht sein. Diese Investitionen sind im nationalen Interesse. Alle demokratischen Parteien sind aufgerufen, sich dahinter zu versammeln.

Wollen Sie auch den Automobilbau – die deutsche Schlüsselindustrie – mit Staatshilfen auf Pump aus der Krise führen?

Benner: Nein. Wir werden zwar massive Investitionen brauchen in die Ladeinfrastruktur. Die Aufgabe der Arbeitgeber ist es aber, bezahlbare elektrifizierte Kleinwagen auf den Markt zu bringen. Das Ziel bleibt unverändert: Wir wollen 15 Millionen Elektroautos bis 2030 auf die Straßen bringen. Jetzt sind wir erst bei 1,3 Millionen. Der Wegfall der Förderung Ende letzten Jahres führt zu weiterer Verunsicherung.

Mit welchen Konsequenzen?

Benner: Wir haben im Moment einfach zu wenig E-Modelle von deutschen Herstellern auf dem Markt, die für das Gros der Bevölkerung finanzierbar sind. Das hat zur Folge, dass die Leute ihre CO₂-intensiveren Autos weiterfahren. Oder sich für chinesische E-Autos entscheiden.

Sorgte bei IG-Metall-Chefin Christian Benner für Begeisterung: ein E-Auto des chinesischen Herstellers BYD.
Sorgte bei IG-Metall-Chefin Christian Benner für Begeisterung: ein E-Auto des chinesischen Herstellers BYD. © dpa-tmn | Matthias Balk

Hängt uns China auch bei den Autos ab?

Benner: Aus meiner Sicht ist diese Messe noch nicht gelesen. Die Chinesen stellen satisfaktionsfähige Elektroautos her, das muss man ehrlich sagen. Ich habe auf der Internationalen Automobilausstellung ein Modell von BYD gefahren und war doch überrascht vom hohen Qualitätsstandard – und das für 25.000 Euro. Die Digitalisierung im Fahrzeug ist exzellent, bis hin zu Karaoke.

Karaoke begeistert Sie?

Benner: Ich habe gesungen, als ich das chinesische Elektroauto gefahren bin. Ich stehe voll auf Karaoke und kann alle Texte rauf und runter. Mein Mann leidet darunter sehr (lacht).

Sie sind die erste Frau an der Spitze der IG Metall. Was wollen Sie verändern in dieser Männerwelt?

Benner: Ich bin mit unseren Männern ganz zufrieden. Auch sie haben mich ja gewählt, mit 96,4 Prozent. Von daher habe ich überhaupt nicht den Anspruch, die Männer zu ändern. Aber ich spüre, dass alle eine Kulturveränderung wollen, Männer und Frauen. Mir ist wichtig, Dinge so zu erklären, dass Menschen sie verdauen und nachvollziehen können. Daran arbeite ich.