Arnsberg. Wie die preisgekrönte Sauerländer Architektur-Professorin Sabine Keggenhoff Deutschlands Wohnraumprobleme lösen will.
Deutschland braucht dringend mehr Wohnraum. 400.000 neue Wohnungen pro Jahr lautete das im Koalitionsvertrag vereinbarte Ziel der Bundesregierung. Es dürfte auch 2024 weit verfehlt werden. Für Sabine Keggenhoff liegt die Lösung der Probleme auf der Hand: Abschied vom Neubaudenken, Konzentration auf Bauen im Bestand. „400.000 Wohnungen pro Jahr sind völlig ohne Neubau möglich“, versichert die Sauerländerin.
Keggenhoff gehört zu den gefragtesten Architektinnen und Innenarchitektinnen Deutschlands, wird gerne engagiert, wenn es um Prestigeprojekte geht wie die Neugestaltung der obersten Etagen der Elbphilharmonie in Hamburg oder, ganz aktuell, die künftige Hauptstadtrepräsentanz der Telekom in Berlin geht. Ein Projekt, das 2024 erst richtig startet.
Im Dezember wurde das Neheimer Büro Keggenhoff und Partner mit dem Materialpreis 2023 für die herausragende Sanierung und Neugestaltung eines evangelischen Gemeindehauses in Hamm-Herringen ausgezeichnet. Das Gebäude mit einer umbauten Fläche von rund 750 Quadratmetern wurde 1931 vom Dortmunder Architekten und Werkbundvertreter Emil Pohle entworfen und mit einer besonderen Rautendeckenkonstruktion aus gekantetem Stahlblech versehen. Eine Seltenheit, die über die vergangenen Jahrzehnte verbaut, und die erst mit dem Umbau durch das Büro Keggenhoff wieder sichtbar wurde. Ausgezeichnet wurde die zweieinhalb Jahre dauernde Sanierung für die besonders sorgsame Gestaltung und die dabei eingesetzten Materialien. Entstanden ist ein beeindruckendes Vorzeigeobjekt, wenn es um bestmögliche Nutzung vorhandener Bausubstanz im Sinne von Bau-Kultur geht. Die Jury bei der Preisverleihung in Stuttgart zeigte sich beeindruckt: „Mit der eigenen Handschrift den ikonischen Bestand identitätsstiftend weiterzuentwickeln, durch ein starkes Lichtkonzept perfekt zu inszenieren und mit einer hohen innenräumlichen Qualität zeitgemäß erlebbar zu machen, zollt den allergrößten Respekt.“
Herringen ist sicher kein Durchschnittsprojekt, mit dem in angemessenem Tempo auf die benötigten 400.000 Wohneinheiten pro Jahr zu kommen wäre, es ist aber ein Beispiel für das Ansinnen von Keggenhoff und laut der Expertin durchaus übertragbar auf die aktuellen Erfordernisse der Wohnungswirtschaft: „Sie können selbst ein Parkhaus ohne großen Aufwand in ein Wohngebäude umwandeln. Leerstehende Bürogebäude könnte man sehr gut umnutzen und zu Wohnungen umgestalten.“
Abschied von der Eitelkeit
Nötig wäre dafür ihrer Ansicht nach eine rigorose Abkehr vom Fokus auf immer mehr Neubauten. Eine Ansage an die eigene Branche, die sich gerne selbst verwirklicht, der dabei aber keineswegs ausnahmslos Besonderes gelingt. „Es geht um einen Abschied von der Eitelkeit, sich als Architekt nicht immer in den Vordergrund zu stellen. Und das ist gut so.“ Einerseits, sagt Keggenhoff, sollte jeder den Traum vom Eigenheim leben können – aber warum müssen die vier Wände partout neu sein? „Es braucht Neubaugebiete für unsere Industrieentwicklung, aber nicht für Eigenheime“, sagt Keggenhoff. Im Sinne der Nachhaltigkeit wäre es schon, vorhandene Substanz zu nutzen.
Zwingend notwendig dafür wäre es laut Keggenhoff, eine Abkehr von der DIN-Versessenheit hierzulande einzuläuten. „Es gibt rund 3500 Verordnungen zu DIN-Normen, die allermeisten beziehen sich auf Neubautätigkeit. Es wäre richtig, sich mehr mit Umbauten zu beschäftigten.“ Dafür sollte sich die Gesetzgebung bei Sanierungen und die Bauordnung von allzu starren Vorgaben möglichst schnell trennen. Aus Sicht der Architektin stehen sie in keinem Verhältnis zum gesellschaftlichen Nutzen. Beispiel Fassadendämmung. „Der Energieverbrauch sinkt, das stimmt. Aber die Dämmmaterialien sind am Ende auch Sondermüll“, erinnert Keggenhoff. Sie hält die Entwicklung auch in Bezug auf die von der Bundesregierung über das Gebäudeenergiegesetz angepriesene Wärmepumpe für von Lobbyismus getrieben, aber für Bestandsbauten nicht unbedingt sinnvoll.
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Architekten benötigen Augenmaß, wenn sie gestalten - Politiker ebenso. Zahlreiche Vorschriften müssten aus Sicht der Expertin entschärft werden, um vorhandene Bauten sinnvoll und bezahlbar sanieren zu können. Hürden sieht Architektin Keggenhoff bei Themen wie Brand-, Wärme- und Schallschutz oder auch Vorschriften zur Barrierefreiheit, die nicht in jedem Bestandsgebäude nach aktueller Gesetzeslage einzuhalten sei.
2,4 Millionen Wohneinheiten durch Aufstockung möglich
Laut einer Studie der Technischen Universität Darmstadt aus dem Jahr 2019 könnten in Deutschland rund 2,4 Millionen Wohneinheiten zudem durch Aufstockung entstehen – auf Gebäuden der 1950er bis 1980er Jahre (bis zu 1,5 Millionen), auf Büro- und Verwaltungsgebäuden (rund 560.000), auf Einzelhandelsgebäuden (400.000) und sogar auf Parkhäusern (20.000).
„Neu, neu, neu ist nicht mehr zeitgemäß“, sagt Sabine Keggenhoff. Das würden auch immer mehr Unternehmen erkennen, wie das Beispiel Telekom zeige, die in Berlin-Mitte in einen Bestandsbau ziehen – wenn Keggenhoff mit der Umgestaltung fertig ist.