Essen. Die RAG-Stiftung verbündet sich mit den drei großen Ruhr-Universitäten. Das Ziel: ein erstes Milliarden-Start-up aus dem Revier.
Ein Start-up, das mehr wert ist als eine Milliarde Euro – das ist die Vision von Bernd Tönjes. „Alle sind auf der Suche nach dem ersten Unicorn aus dem Ruhrgebiet“, sagt der Vorstandschef der Essener RAG-Stiftung. Als „Unicorn“, zu Deutsch „Einhorn“, bezeichnet die Gründer-Szene eine junge Firma, die diese magische Schwelle bei der Unternehmensbewertung überschreitet. Noch wartet das Ruhrgebiet auf seine Unicorn-Premiere. Hoffnung weckt ein Vorbild aus dem benachbarten Münster, wo der Getränke-Lieferdienst Flaschenpost entstanden ist. Für eine Übernahme der schnell wachsenden Firma soll der Oetker-Konzern tatsächlich fast eine Milliarde Euro gezahlt haben. Im Ruhrgebiet verbünden sich nun die drei großen Universitäten mit der RAG-Stiftung, um den Gründergeist zu beflügeln. Die Aufholjagd in Sachen Start-ups hat begonnen.
Wie ist die Ausgangslage?
Seit Jahrzehnten wird das Ruhrgebiet von großen Konzernen geprägt. Das hat insbesondere mit der Schwerindustrie-Historie zu tun – mit Kohle, Stahl, Energiewirtschaft und Chemie. Damit gilt das Revier nicht gerade als Hort des Gründergeistes. „Vor 60 Jahren gab es im Ruhrgebiet rund 600.000 Bergleute und so gut wie keine Studierenden, keine Universitäten“, sagt RAG-Stiftungschef Bernd Tönjes. „Heute haben wir – die Fachhochschulen eingerechnet – etwa 300.000 Studierende und keinen einzigen Bergmann mehr.“ Tönjes spricht von einer „gewaltigen Transformation“, dennoch müsse das Revier beim Thema Start-ups aufholen.
„Als ich vor 20 Jahren im Ruhrgebiet angefangen habe, sind fast alle Absolvierenden nach dem Studium in Dortmund nach Süddeutschland gegangen, weil dort große Arbeitgeber wie Bosch, Infineon und Siemens sind“, erzählt der Physiker Manfred Bayer, der Rektor der TU Dortmund ist. „Das hat sich jetzt schon massiv verändert. Aus Befragungen, die wir machen, geht hervor, dass etwa 35 Prozent unserer Absolvierenden in Dortmund bleiben, 60 Prozent im Ruhrgebiet. Aber wir müssen bei diesem Thema dranbleiben.“
„Es ist schon sehr viel passiert, aber wir müssen noch mehr tun“, sagt RAG-Stiftungschef Tönjes. „Vor allem muss es uns gelingen, die Absolventen der Hochschulen stärker als bisher an das Ruhrgebiet zu binden.“ Und mit den Absolventen sollen mehr Start-ups entstehen. „Rund 120.000 Studierende gehören zu den Universitäten in Bochum, Dortmund und Duisburg-Essen. Das ist ein riesiges Potenzial“, betont Martin Paul, Rektor der Ruhr-Universität Bochum.
Was haben die Universitäten bislang mit Blick auf Start-ups zu bieten?
Es gibt bereits Gründer-Zentren an den Hochschulen, an der TU Dortmund zum Beispiel das CET („Centrum für Entrepreneurship & Transfer“), an der Universität Duisburg-Essen das „Zentrum für Gründungen und Innopreneurship“ (Guide), in Bochum das „Worldfactory Start-up Center” der Ruhr-Universität (WSC). „Neben Forschung und Lehre hat der Wissenstransfer für Universitäten eine zunehmende Bedeutung“, sagt Barbara Albert, Rektorin der Universität Duisburg-Essen. Zusammen kommen die Gründer-Zentren an den Universitäten des Reviers auf deutlich über 100 Beschäftigte.
Die RAG-Stiftung hat ebenfalls eine Gründer-Plattform ins Leben gerufen. Sie heißt Bryck, beschäftigt 25 Mitarbeiter und wird aus Essen gesteuert. „Wir wollen ein Epizentrum für Start-ups schaffen“, sagt Christian Lüdtke, der Geschäftsführer von Bryck. Die Gründer-Plattform Bryck hat seit ihrem Start im Jahr 2022 eigenen Angaben zufolge rund 60 Unternehmen betreut. „Wenn es um Start-ups geht, sind wir – sinnbildlich gesprochen – die Trüffelschweine“, erklärt Lüdtke. „Unser Ziel ist immer: Wer bei Bryck war, muss eine höhere Unternehmensbewertung haben als vorher.“ Die RAG-Stiftung ist Initiator von Bryck und unterstützt den Aufbau des Start-up-Zentrums auch mit dem Ziel, gewinnbringend in aussichtsreiche Start-ups investieren zu können.
Wie viele Ausgründungen gibt es bereits an den Universitäten im Ruhrgebiet?
„Allein in den vergangenen zweieinhalb Jahren sind bei uns an der Universität Duisburg-Essen mehr als 30 Start-ups entstanden“, berichtet Rektorin Barbara Albert. „Im Verbund der drei großen Universitäten gibt es jährlich etwa 60 Ausgründungen, die das erste Jahr überleben“, so Manfred Bayer, Rektor der TU Dortmund. Damit seien die Universitäten aus Bochum, Dortmund sowie Duisburg-Essen beim Thema Ausgründungen „schon ganz gut“ unterwegs. „Ich denke aber auch, dass das Potenzial immer noch nicht vollständig genutzt wird, weil wir beim Thema Ausgründungen als Universitäten noch unabhängig voneinander agieren – und damit auch unkoordiniert.“
Welche Ziele formulieren die Rektoren der Ruhrgebiets-Unis?
„Unser Ziel ist: Wir wollen mehr Gründer an den Hochschulen im Ruhrgebiet“, sagt Martin Paul, Rektor der Bochumer Ruhr-Universität. „Wir sehen uns als Trendsetter in Deutschland.“ Manfred Bayer betont: „Wenn wir in Sachen Start-ups alle Kräfte im Ruhrgebiet bündeln, kann etwas entstehen, was sich locker mit Berlin oder München messen lassen kann.“
Barbara Albert, die Rektorin der Universität Duisburg-Essen, wittert große Chancen. „Wir können im Ruhrgebiet beim Thema Start-ups zur Spitze gehören“, sagt sie. „Die Voraussetzungen für Gründer sind im Ruhrgebiet hervorragend. Unsere Aufgabe ist es, das auch sichtbar zu machen.“ In der „Universitätsallianz Ruhr“ arbeiten die drei großen Revier-Unis, zu denen insgesamt fast 1300 Professorinnen und Professoren gehören, seit dem Jahr 2007 zusammen. „Mit der Universitätsallianz Ruhr haben wir bundesweit eine einzigartige Konstellation“, erklärt Barbara Albert.
Nun soll auch die Kooperation der Universitäten beim Thema Start-ups intensiver werden – und auch die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft in der Region. „Wenn wir uns zusammentun, werden wir bundesweit sichtbarer“, sagt der Bochumer Rektor Martin Paul. „Ich habe lange in den Niederlanden gearbeitet, unter anderem in Maastricht. Dort wird schon viel stärker als hierzulande auf Netzwerke von Wissenschaft und Wirtschaft gesetzt. Die Hochschulen sind sehr nah an den Unternehmen. Ich denke, wir können uns hier in NRW einiges davon abgucken.“ Auch beim Image des Ruhrgebiets gebe es „nach wie vor Verbesserungsbedarf“, sagt Martin Paul. „Wir sind dabei, es zu verändern.“
Wenn es mehr Beispiele erfolgreicher Gründer aus dem Ruhrgebiet gebe, werde das die Entwicklung beflügeln, sagt RAG-Stiftungschef Bernd Tönjes: „Es ist wichtig, dass wir jetzt Erfolge produzieren, die über unsere Region hinaus sichtbar sind. Das motiviert dann auch andere, im Ruhrgebiet zu gründen.“ Potenziale für Ausgründungen an der Hochschule sieht Rektorin Barbara Albert nicht nur bei Studierenden, sondern auch bei den Professorinnen und Professoren.
In welchen Branchen hat das Ruhrgebiet die größten Chancen?
„Logistik, Gesundheit, Energie, Wasserstoff – das sind Themen, die in die Region passen. Hier sehe ich auch für Start-ups große Potenziale“, sagt Christian Lüdtke, Geschäftsführer von Bryck. „Viele Gründungen bei uns kommen aus dem Ingenieurwesen und der Informatik“, erklärt Barbara Albert, Rektorin aus Duisburg-Essen. „Hinzu kommen Fächer wie Chemie, Biologie und Materialwissenschaften. Mit der Unimedizin sind wir auch im Gesundheitsbereich stark.“
Gibt es schon erfolgreiche Start-ups aus dem Ruhrgebiet?
„In Dortmund sind erfolgreiche Unternehmen von Absolventinnen und Absolventen aus der Universität entstanden“, sagt Rektor Bayer. „Ich denke beispielsweise an die Softwarefirma Materna mit rund 3000 Beschäftigten, Elmos mit mehr als 1000 und der IT-Dienstleister Adesso mit rund 9000 Leuten. Das ist beachtlich, und ich glaube, es entsteht im Moment eine neue Welle.“ Dortmund gilt als eine Universität, die schon vergleichsweise frühzeitig mit einem Technologiepark ein Umfeld für Firmengründungen rund um die Hochschule geschaffen hat.
Barbara Albert nennt als Beispiel für eine erfolgreiche Gründung an der Uni Duisburg-Essen das Unternehmen airCode, das Niels Benson, einer der Professoren vor Ort, gegründet hat. Die Firma befasse sich mit der Entwicklung einer chiplosen Funk-Etiketten-Technologie, die eine Alternative zu Barcodes sein könnte.
Auch die Liste der Start-ups, die mit Hilfe der Plattform Bryck aufgebaut werden, wird nach Darstellung von Geschäftsführer Christian Lüdtke länger. „Beispiele von Unternehmen, die wir begleitet haben, sind das Wittener Unternehmen vGreens, das neuartige Gewächshäuser entwickelt hat“, erklärt Lüdtke. „Auch beim Aufbau der Bochumer Firma und RUB-Ausgründung ai.dopt, die für Unternehmen den Aufwand und Nutzen von Künstlicher Intelligenz evaluiert, waren wir beteiligt.“ Bundesweit Schlagzeilen gemacht hat unlängst die Essener Firma Greenlyte Carbon Technologies mit einem sogenannten CO2-Staubsauger.
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Die RAG-Stiftung hat eigenen Angaben zufolge bislang in zwei Start-ups investiert, die im Programm von Bryck waren – und zwar in eine Firma namens Dubidoc, die eine Online-Terminplanungs-Software entwickelt, die Ärzten und Therapeuten helfen soll, die „Patientenströme in der medizinischen Praxis zu verwalten“. Hinzu kommt die Firma Spexa, die mit einem „Business Health Index“ analysieren will, wie es um die Gesundheit in Unternehmen steht. „Wenn wir Geld in Start-ups stecken, ist das kein Sponsoring, sondern rein renditeorientiert“, sagt Tönjes. Seine Stiftung habe die Aufgabe, Geld zu verdienen, um die Ewigkeitsaufgaben des Nachbergbaus zu finanzieren. Das gelte auch für das Thema Start-ups.
Was haben die Studierenden von der Gründer-Initiative?
„Wir wollen an jeder der drei großen Universitäten im Ruhrgebiet ein Büro eröffnen“, berichtet Bryck-Geschäftsführer Christian Lüdtke. Schon in den ersten Monaten des neuen Jahres soll es losgehen. „Wo sonst sollen Start-ups herkommen, wenn nicht aus den Universitäten? Die Mentalität entscheidet. Wir wollen etwas entfachen.“ Die Botschaft, die Bryck in die Hochschulen tragen wolle, laute: „Es muss nicht immer die Konzernkarriere sein. Es ist möglich, eine eigene Firma zu gründen. Forscher müssen nicht immer die besten Unternehmer sein. Hier setzen wir an. Wir wissen, wie man eine Firma baut.“
Gründungsinteressierten Studierenden will die Start-up-Plattform eine Teilnahme an ihren Programmen ermöglichen. Mindestens einmal im Jahr wollen die Universitäten mit Bryck und der RAG-Stiftung eine gemeinsame Startup-Veranstaltung organisieren. Mitarbeitende der Gründungszentren der drei Universitäten aus dem Ruhrgebiet können zudem Co-Working-Arbeitsplätze in den Räumen von Bryck in Essen nutzen, um die Zusammenarbeit zu intensivieren. „Wie Wirtschaft und Wissenschaft hier beim Thema Start-ups zusammenarbeiten, kann aus meiner Sicht nicht überbewertet werden“, sagt RAG-Stiftungschef Tönjes.
Können sich Studierende an den Universitäten auch zu Gründern ausbilden lassen?
Zumindest gibt es Seminare und Kurse im Bereich Entrepreneurship. An den drei Universitäten im Ruhrgebiet werden die Angebote von rund 8000 Studierenden genutzt, berichtet Manfred Bayer. Auch Martin Paul, der Rektor der Ruhr-Universität Bochum, stellt fest: „Die Studierenden interessieren sich für das Unternehmertum. Wir bedienen also eine Nachfrage, wenn wir an unseren Hochschulen Angebote zum Thema Start-ups machen.“
Gibt es weitere Pläne von Universitäten und RAG-Stiftung?
Es ist geplant, dass sich die drei Hochschulen gemeinsam mit Bryck an einem Wettbewerb der Bundesregierung beteiligen, der zum Ziel hat, eine „Startup Factory“ im Ruhrgebiet aufzubauen. Diese „Factory“ soll nach dem Willen des Bundeswirtschaftsministeriums die Zahl und Qualität wissensbasierter Ausgründungen steigern. „Wir haben die Absicht, uns mit unserem Bündnis zu bewerben. Einige Details sind noch offen. Aber wir sind hochmoviert“, sagt RAG-Stiftungschef Tönjes. Mit dem Förderprogramm des Bundes könnte das Gründer-Bündnis noch weiter wachsen.