Essen/Duisburg. 10.000 Beschäftigte laut IG Metall bei einem „Aktionstag“ vor den Werkstoren von Thyssenkrupp in Duisburg. In der Industrie sind die Sorgen groß.
Am Freitag sind sie wieder vors Werkstor gezogen. Europas größte Stahlfabrik im Duisburger Norden ist der Ort, an dem sich die Beschäftigten aus ganz NRW und dem Saarland immer dann zum Protest versammeln, wenn es mal wieder eng wird für ihre Schwerindustrie. Doch diesmal geht der Protestaufmarsch weit über die eingeübte Machtdemonstration der Stahlkocher hinaus. In Duisburg bündeln sich der geballte Frust und die Zukunftsangst der gesamten deutschen Grundstoffindustrie. Sie fühlt sich von der Ampel-Regierung im Stich gelassen, und sie sieht nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimafonds den grünen Umbau der Industrie als Ganzes in Gefahr.
Entsprechend schicken die beiden größten Industriegewerkschaften Deutschlands, die IG Metall und die IGBCE, ihre Spitzen auf die Bühne vor der Stahlstadt: Neben der frisch gewählten IG-Metall-Chefin Christiane Benner hat sich auch Michael Vassiliadis angekündigt, der vor allem für die Chemie seit Wochen für günstigere Industriestrompreise trommelt. Warum sie tausende Arbeitsplätze gefährdet sehen, werden außerdem die Lanxess-Betriebsratsvorsitzende Manuela Strauch und Thyssenkrupp-Gesamtbetriebsratschef Tekin Nasikkol den nach Gewerkschaftsangaben rund 10.000 Teilnehmern zurufen.
Thyssenkrupp-Manager Grolms warnt vor Populisten
Auch Markus Grolms, Personalvorstand von Thyssenkrupp Steel, stellt sich an die Seite der Beschäftigten draußen vor dem Werkstor. „Es kann doch eigentlich nicht wahr sein, dass wir immer auf die Straße gehen müssen, um uns Gehör zu verschaffen“, sagt Grolms im Gespräch mit unserer Redaktion. „Wir können so nicht weitermachen“, klagt der Stahl-Manager. „Die Lage ist wirklich ernst. Bei den Strompreisen gibt es nicht die notwendige Entlastung für die energieintensive Industrie – und jetzt noch das Karlsruher Urteil und die Haushaltskrise. Wir müssen wissen, wie es mit der Transformation weitergeht.“ Deshalb fordert Deutschlands Stahlindustrie „einen Transformationsgipfel“ bei der Bundesregierung. „Die Menschen müssen sich darauf verlassen können, dass wir Versprechen halten. Können sie es nicht, treiben wir sie direkt den Populisten in die Arme“, mahnt Grolms.
Es kommt viel zusammen dieser Tage: Die Industrie hatte voll auf den vom grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck geplanten, subventionierten Industriestrompreis von sechs Cent je Kilowattstunde (kWh) gesetzt, im Idealfall auf die von der SPD vorgeschlagenen 5 Cent. Daraus ist nichts geworden, FDP-Finanzminister Christian Lindner und Kanzler Olaf Scholz haben das verhindert. Die Senkung der Stromsteuer um zwei Cent und die Verlängerung bestehender Vergünstigungen reichen der Industrie nicht aus.
Nun kommt noch das 60-Milliarden-Euro-Loch dazu, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgericht in den Bundeshaushalt gerissen hat. Den so dotierten Klima- und Transformationsfonds erklärten die Richter für verfassungswidrig. Nun befürchten Industrien, die ihre Produktion klimafreundlich umstellen wollen, dass der Staat künftig kein Geld mehr hat für die Förderung, ohne die es nicht geht.
Da Lindner seinen Haushalt neu aufstellen muss, stehen mehrere für die Industrie wichtige Entlastungen plötzlich wieder infrage: Die Strompreiskompensation für besonders energieintensive Betriebe sollte aus dem gekippten Transformationsfonds bezahlt werden, immerhin 2,6 Milliarden Euro im Jahr. Die Senkung der Stromsteuer für das produzierende Gewerbe steht zwar für 2024 und 2025. Doch für die Jahre 2026 bis 2028 war sie von Beginn an unter Finanzierungsvorbehalt, der nun deutlich größer geworden ist.
Sorge um Investitionen am Standort NRW
„Die finanzpolitische Lage im Bund sorgt natürlich bei vielen Unternehmen in Nordrhein-Westfalen für Verunsicherung. Die Ampel muss jetzt zügig für Klarheit und Planungssicherheit sorgen“, fordert Johannes Pöttering, Hauptgeschäftsführer der Unternehmensverbände NRW, gegenüber unserer Redaktion. Die bisher getroffenen Zusagen müssten eingehaltenwerden. „Von zentraler Bedeutung für die Wirtschaft sind hierbei die Strom- und Gaspreisbremsen und das Strompreispaket“, betont er.
Sollten insbesondere die Industrieunternehmen, die sich auf den Weg in eine klimaneutrale Transformation gemacht haben, nun den Eindruck gewinnen, die Politik sei nicht handlungsfähig, „läuft unser Land Gefahr, dass Unternehmen wichtige Entscheidungen für Zukunftsinvestitionen verschieben, grundsätzlich auf den Prüfstand stellen oder an Standorten jenseits der deutschen Grenzen umsetzen“, warnt Pöttering. Das wäre eine schwere Hypothek für den Wirtschafts- und Industriestandort Deutschland und würde zu Lasten vieler tausend Industriearbeitsplätze gehen.
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