Essen. Einzelhandels-Tarifstreit: Verdi entsetzt über Abbruch durch Arbeitgeber. Wie Verhandlungsführerin Zimmer reagiert und wo Freitag gestreikt wird.
Kurz vor Beginn des für die Branche enorm wichtigen Weihnachtsgeschäfts rollt auf den Einzelhandel eine neue Streikwelle zu. Für Freitag hat die Gewerkschaft Verdi zu bundesweiten Arbeitsniederlegungen aufgerufen. Der Abbruch der Verhandlungen durch die Arbeitgeber am vergangenen Montag führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer weiteren Eskalation. Das legt ein Brief der Verdi-Vorständin Silke Zimmer an den Handelsverband HDE nahe, der unserer Redaktion vorliegt.
Darin spricht sie von einem „Tarifdiktat“ der Arbeitgeber, das „Streiks im Weihnachtsgeschäft“ provoziere und dafür sorge, „dass eine Einigung in diesem Jahr erst gar nicht möglich wird“. Zimmer beklagt den Bruch mit der „jahrzehntelangen gemeinsamen Praxis“ des Einzelhandels, auf regionaler Ebene Tarifverhandlungen zu führen. Die in den Bundesvorstand aufgestiegene Verdi-Handelsfachfrau führt auch die Verhandlungen mit den Arbeitgebern in NRW - wie in allen Bezirken auch nach mehr als einem halben Jahr bisher ohne Ergebnis.
Seit Wochen und Monaten gibt es immer wieder regionale Warnstreiks, seit einigen Wochen kommen bundesweite Aufrufe hinzu. In NRW gibt es morgen keinen zentralen Streikort, dafür hat Verdi in etlichen Einzelbetrieben die Beschäftigten zur Arbeitsniederlegung aufgerufen. Darunter im Ruhrgebiet zum Beispiel Saturn und Primark in Dortmund, Kaufland in Dortmund, Bochum, Marl, Herten und Bottrop sowie Marktkauf in Gelsenkirchen. Parallel läuft auch die Tarifrunde im Groß- und Außenhandel, ebenfalls begleitet von vielen Warnstreiks.
Verdi und Handelsverband geben sich gegenseitig Schuld fürs Scheitern
Die beiden Tarifparteien machen sich gegenseitig für das bisherige Scheitern der Verhandlungen verantwortlich. Die Arbeitgeber werfen der Gewerkschaft vor, sich bei ihrer Forderung von 2,50 Euro mehr Stundenlohn bisher nicht bewegt zu haben. Verdi wirft dem Handel vor, mit seinem Angebot nach wie vor unter der Inflation zu bleiben – und Reallohnverluste für die mehr als drei Millionen Beschäftigten seien nicht hinnehmbar.
In dem festgefahrenen Konflikt hatte der Handelsverband am Montag die regional geführten Verhandlungen abgebrochen und Verdi zu einem Spitzengespräch auf Bundesebene aufgefordert. HDE-Tarifgeschäftsführer Steven Haarke wolle dabei mit der Gewerkschaft „ein neues Verhandlungsformat“ vereinbaren, teilte der Verband mit. Er sehe sich aufgrund der „beispiellosen Verweigerungshaltung“ von Verdi auch „gezwungen, sehr ernsthaft über Veränderungen der bisherigen Struktur zur Verhandlung des Flächentarifvertrages nachzudenken“, so Haarke.
Verdi: Spitzengespräch nur, wenn regional weiter verhandelt wird
Das kam weder in der Berliner Verdi-Zentrale noch in den regionalen Tarifkommissionen von Verdi gut an, mit denen die Arbeitgeber aktuell und womöglich grundsätzlich nicht mehr reden wollen. In ihrem Antwortbrief an den HDE schreibt Silke Zimmer, es sei „nicht nachvollziehbar, warum die bereits terminierten Tarifverhandlungen einseitig abgesagt wurden“. Verdi verschließe sich keinem Gespräch auf Bundesebene, die Bedingung dafür sei aber, dass die Arbeitgeber die Absagen der regionalen Verhandlungstermine zurücknehmen. Denn Gespräche könnten Tarifverhandlungen nicht ersetzen.
Der HDE will also auf Bundesebene weiter reden und stellt die bisherige Struktur mit Verhandlungen in 13 Tarifbezirken grundsätzlich infrage; Verdi will nur auf Bundesebene reden, wenn die regionalen Verhandlungen fortgesetzt werden – festgefahrener geht es kaum.
Leicht waren Tarifrunden im Einzelhandel ohnehin nie. Denn es gibt wenige Branchen, deren einzelne Zweige so verschieden unterwegs sind. Das hat sich in den vergangenen Jahren noch verschärft, weil vor allem der Textilhandel besonders unter den Folgen der Corona-Pandemie und dem dadurch sprunghaft gestiegenen Onlinehandel gelitten hat, während etwa der Lebensmittelhandel und die Baumärkte sogar einen Schub bekommen haben.
Viele Supermärkte und Discounter zahlen freiwillig schon mehr
So ist es auch kein Zufall, dass große Lebensmitteleinzelhändler wie Rewe, Aldi, Lidl und Kaufland bereits freiwillig höhere Löhne zahlen. Sie sind der HDE-Empfehlung gefolgt, die Entgelte ab Oktober um 5,3 Prozent zu erhöhen, was mit dem ausstehenden Tarifabschluss verrechnet werden kann. Der HDE hatte zuletzt nach eigenen Angaben bei einer 24-monatigen Laufzeit eine Anhebung der Tarifentgelte von mindestens zehn Prozent in zwei Stufen sowie eine steuer- und abgabenfreie Inflationsprämie von insgesamt 750 Euro angeboten.
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Verdi ist besonders wichtig, die unteren Einkommensgruppen zu stärken, fordert deshalb die Erhöhung um einen Eurobetrag statt in Prozenten. Das Angebot der Arbeitgeber bedeute „für eine Verkäuferin 92 Cent die Stunde und damit einen Reallohnverlust“, sagte Verdi-Chef Frank Werneke dazu.
Verdi-Verhandlungsführerin Zimmer sieht prekäre Lage bei Beschäftigten
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Zimmer sieht in deutlicheren Sprüngen gerade in den unteren Bereichen auch die einzige Chance, den Personalmangel im Handel zu bekämpfen. „Unser Ziel als Gewerkschaft ist ein Tarifabschluss, welcher die prekäre Lage der Beschäftigten nicht weiter verschlechtert und einen Schritt in Richtung Zukunft für den Einzelhandel darstellt“, schreibt sie an den HDE.