Leverkusen/Essen. Der NRW-Konzern Covestro könnte Eigentümer aus Abu Dhabi bekommen – ein möglicher Milliarden-Deal, der viel über den Standort Deutschland sagt.

Einer der größten Industriekonzerne Nordrhein-Westfalens ist ins Visier eines staatlichen arabischen Ölunternehmens geraten. Mit einer milliardenschweren Transaktion will die Abu Dhabi National Oil Company – kurz Adnoc – den Leverkusener Chemiekonzern Covestro übernehmen. Covestro ist auf die Herstellung von Kunststoffen spezialisiert und vor einigen Jahren aus dem Traditionskonzern Bayer hervorgegangen. Geführt wird Covestro vom deutschen Branchenpräsidenten Markus Steilemann. Als Mann an der Spitze des Verbands der Chemischen Industrie (VCI) repräsentiert Steilemann einen Wirtschaftszweig mit bundesweit mehr als 500.000 Beschäftigten. Zu Covestro gehören rund 18.000 Mitarbeitende an 50 Standorten weltweit.

Schon vor einigen Wochen ist bekannt geworden, dass Abu Dhabis staatlicher Ölkonzern Adnoc ein Auge auf Covestro geworfen hat. Zunächst gab es nur im Verborgenen Kontakte, mittlerweile hat das Covestro-Management auch offiziell Gespräche bestätigt. Der von Steilemann geführte Vorstand habe beschlossen, „ergebnisoffene Gespräche mit Adnoc aufzunehmen“, teilte der Konzern in Leverkusen mit.

Die Scheichs könnten sich mit einer Übernahme des nordrhein-westfälischen Großunternehmens Zugang zu deutschen Zukunftstechnologien in der Chemie sichern. Covestro richtet sich auf die Kreislaufwirtschaft aus und strebt an, bis zum Jahr 2035 klimaneutral zu werden. Angesichts hoher Öl- und Gaspreise ist der arabische Staatskonzern Adnoc überaus finanzkräftig. Zu den strategischen Zielen von Adnoc gehört auch, die Geschäfte jenseits des klassischen Öl- und Gasgeschäfts auszubauen. Adnoc wäre auch ein potenzieller Rohstofflieferant für den deutschen Chemiekonzern. Als Kunststoff-Hersteller benötigt Covestro viel Energie.

Habeck schon vor Monaten in Abu Dhabi

In Deutschlands Industrie macht schon seit geraumer Zeit der Begriff „Energiepartnerschaften“ die Runde. Im Frühjahr vergangenen Jahres ist Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) nach Abu Dhabi, zur Hauptstadt der Vereinigten Arabischen Emirate, gereist, um Möglichkeiten für eine Zusammenarbeit beim Aufbau der Wasserstoff-Wirtschaft auszuloten. Geführt wird der Staatskonzern Adnoc von Sultan Ahmed Al Jaber, der auch Industrieminister der Vereinigten Arabischen Emirate ist. Nach einem Besuch von Al Jaber bei Habeck in Berlin im Mai 2022 verkündete die Bundesregierung mehrere Kooperationsprojekte für den Hochlauf der Wasserstoff-Industrie. Al Jaber soll auch die nächste Klimakonferenz „COP 28“ ab Ende November in Dubai leiten.

Covestro gehört zu den bundesweit 40 wichtigsten Konzernen, die im Deutschen Aktienindex (Dax) notiert sind, und beliefert eigenen Angaben zufolge rund um den Globus Kunden in Schlüsselindustrien wie Mobilität, Bauen und Wohnen sowie Elektro und Elektronik. Außerdem werden Kunststoffe von Covestro in der Sport- und Freizeitbranche, von Kosmetikherstellern und in der Gesundheitsindustrie eingesetzt.

Bei einem Kurs von 51,50 Euro pro Aktie wurde Covestro zuletzt mit rund 10,2 Milliarden Euro bewertet. Zuletzt war in Medien die Rede davon, dass die Araber informell 60 Euro je Aktie in Aussicht gestellt hätten, was einem Wert von 11,6 Milliarden Euro entspricht. Spekulationen über ein Interesse von Adnoc gibt es seit Mitte Juni, damals hatten die Aktien noch um die 40 Euro gekostet. „Ein Angebot unter 60 Euro ist eher inakzeptabel“, sagt Marc Tüngler von der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW). „Vor der Corona-Krise ging der Kurs Richtung 90 Euro.“

Deutschlands Chemiekonzerne unter Druck

Die heimische Chemieindustrie befindet sich derzeit massiv unter Druck. „Der Glaube an den Standort Deutschland schwindet“, klagte Covestro-Chef Markus Steilemann in seiner Funktion als VCI-Präsident vor wenigen Wochen. Die Chemieindustrie sei auf „wettbewerbsfähige Strompreise“ angewiesen, betonte Steilemann. Auch wenn die Stromkosten gesunken seien, liegen sie nach VCI-Angaben „immer noch über dem Vorkrisenniveau und waren auch damals schon ein entscheidender Standortnachteil“. Branchenriesen wie BASF, der Essener Spezialchemie-Hersteller Evonik und das aus dem Leverkusener Bayer-Verbund entstandene Unternehmen Lanxess haben kürzlich ihre Erwartungen für das laufende Geschäft nach unten korrigiert.

Einerseits sei die heimische Chemieindustrie attraktiv für Investoren, analysiert Marc Tüngler von der DSW. Die Attraktivität der Chemiebranche kombiniere sich derzeit aber mit gefallenen Aktienkursen der Chemieriesen „zu einer toxischen Gemengelage“, so Tüngler. Es sei „eine perfekte Welt“ für übernahmewillige Unternehmen entstanden. Auch über Covestro hinaus seien Konzerne angreifbar geworden. „Auch der BASF-Kurs ist sehr attraktiv für eine Übernahme – und kein Groß- oder Ankeraktionär fährt seine schützende Hand aus“, sagte Tüngler im Gespräch mit unserer Redaktion.

Tüngler: „Entwicklung, die einem Sorgenfalten auf die Stirn treibt“

Die Gewerkschaft IGBCE mit ihrem Vorsitzenden Michael Vassiliadis beobachtet die Entwicklung bei Covestro aufmerksam. „Wir beteiligen uns nicht an Kapitalmarktspekulationen“, erklärt ein IGBCE-Sprecher am Wochenende auf Anfrage. „Für die Covestro-Belegschaftsvertretungen und die IGBCE ist entscheidend, dass der Konzern jetzt nachhaltig zukunftsfest gemacht wird. Das gilt vor allem für Standorte und Beschäftigung. Dafür setzen wir uns mit Nachdruck ein.“

Auch die NRW-Landesregierung dürfte mit Interesse verfolgen, was sich in Leverkusen – wenige Kilometer vom Regierungssitz Düsseldorf entfernt – tut. Derzeit will sich NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur (Grüne) aber nicht zu den Vorgängen bei Covestro äußern, wie das Ministerium auf Anfrage am Sonntag (10. September) mitteilt.

Die SPD-Wirtschaftspolitikerin Lena Teschlade sieht die schwarz-grüne Landesregierung gefordert, „aktive Industriepolitik“ zu betreiben, um den heimischen Unternehmen den Rücken zu stärken. „Ministerpräsident Hendrik Wüst und Mona Neubaur müssen endlich eine industriepolitische Gesamtstrategie vorlegen“, sagt die NRW-Landtagsabgeordnete. „Sie sind jetzt gefordert, die Gespräche zwischen Adnoc und Covestro intensiv zu verfolgen und notfalls auch daran teilzunehmen.“

Die Chemiebranche sei eine „Schlüsselindustrie“ für Deutschland – als Basis und Treiber von Innovationen, auch der Energie- sowie Mobilitätswende, merkt DSW-Hauptgeschäftsführer Marc Tüngler an. „Fällt sie in fremde Hände, steigt die Abhängigkeit von nicht heimischen Playern. Insgesamt ist das alles eine Entwicklung, die einem Sorgenfalten auf die Stirn treibt, da es den Standort Deutschland nochmals schwächt.“

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