Erndtebrück. Anders als in anderen Teilen Deutschlands hielt sich die Kriegsbegeisterung in Erndtebrück in Grenzen. Dafür war das Leid der Angehörigen groß.

Am 11. November 1918 – also vor fast genau 104 Jahren – endete der erste Weltkrieg. Dank der Chronik von Pfarrer Balke ist sehr detailreich bekannt, was der Ausbruch des Krieges und die ständigen Nachrichten vom Tod geliebter Familienmitglieder an der Front für die Erndtebrücker bedeuteten.

„Die Hochspannung des politischen Lebens in den letzten Tagen vor dem Ausbruch des Weltkrieges hatte auch manche Familien der Gemeinde in fieberhafte Aufregung versetzt. Ich war in jenen Tagen noch mit den erstmaligen Gemeindebesuchen beschäftigt und fand schon drei Tage vor der Mobilmachung eine kinderreiche Familie in Trauer, weil der Vater mit in den Krieg musste. Am Sonnabend nachmittags um 5 Uhr wurde dann durch die hier übliche Ortsschelle die allgemeine Mobilmachung bekannt gemacht“, schreibt Pfarrer Balke in seinen Erinnerungen. Die Erndtebrücker wühlte die Bekanntmachung auf: „Eine große Unruhe bemächtigte sich der Bevölkerung, durchrasende Autos wurden mit argwöhnischen Augen betrachtet.“

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Anders als in anderen Teilen Deutschlands war die Freude über den beginnenden Krieg nicht vorhanden: „Die Stimmung in den Häusern war recht gedrückt. Es entspricht wohl überhaupt der etwas pessimistischen, resignierten Naturanlage unserer Wittgensteiner Bauern, dass der große Zug der Begeisterung, der hellauflodernden Vaterlandsliebe während der ganzen Dauer des Krieges stark zurücktrat hinter den niederdrückenden Eindrücken. Besonders die Frauen machten immer wieder einen verzagten Eindruck. Ich hörte immer wieder das müde, sich in sein Schicksal ergebende ,Man muss es nehmen, wie es kommt, es ist nun mal nicht anders.’“

„Vaterland“ spielt geringe Rolle

Der Blick der Erndtebrücker war laut Pfarrer Balke also mehr nach innen gerichtet: „Das ,Vaterland’ spielt im allgemeinen in den Gedanken der Leute eine geringere Rolle, da fehlt die rechte Vorstellung, der Blick ist zu beschränkt. Allgemein lebendig ist dagegen die Liebe zur engeren Heimat, dass die Feinde nicht in unsere friedlichen Gegenden kommen, dass Weib und Kinder vor den Schrecken des Krieges verschont bleiben, dafür kämpft der Gatte und der Sohn draußen.“ Schon kurze Zeit nach der Mobilmachung mussten die Väter und Söhne Erndtebrücks die Gemeinde verlassen, erinnert sich Balke: „In der Morgenfrühe kurz nach 5 Uhr gingen die Züge mit den Einberufenen ab. Die Frauen und Mütter waren meist mit am Bahnhof, der Ton blieb ruhig und ernst. Törichte Gerüchte durchschwirrten den Ort: In Marburg sei ein Spion erwürgt, in Siegen einer erschossen worden.“

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Die Ederbrücke mitten im Ort und die Eisenbahnbrücke nach Schameder wurden mit Gewehr bewacht. „Eine schwere Kette wehrte jedem herankommenden Auto die Durchfahrt, bis die Papiere mit Kennermiene geprüft und in Ordnung befunden waren. Gar zu gerne hätte man ein Auto mit französischem Golde auf dem Wege nach Russland abgefangen und stundenlang war die Straße voll von Menschen“, schreibt Balke.

Die ersten Opfer waren zwei Lehrer

„Es mögen etwa 100 gewesen sein, die sofort eingezogen wurden, die Zahl steigerte sich dann immer mehr bis Ende 1915 bis auf 250 aus Erndtebrück“, berichtet Pfarrer Balde in seiner Kriegschronik. Es sollte nicht lange dauern, bis die ersten traurigen Nachrichten von der Front in Erndtebrück ankamen. „Am 31. August traf die erste feste Nachricht von Gefallenen aus unserer Gemeinde ein. Es waren zwei Lehrer, die ihr Leben ließen.

„Und dann kamen die Trauerurkunden Schlag auf Schlag, oft unter besonders schmerzlichen Umständen. Eine Familie, die die sichere Todes-Meldung erhalten hatte, erhielt durch einen Dritten aufgrund eines nicht aufgeklärten Missverständnisses doch noch einen Gruß von ihrem Sohn, nahm infolgedessen an, er lebe noch. Nach wochenlanger Spannung und Ungewissheit stellte sich dann doch die Todesnachricht als richtig heraus.“

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Das sollte nicht der letzte tragische Fall gewesen sein, wie Pfarrer Balke berichtet: „Der erste Familienvater, der fiel, hinterließ seine Frau mit vier kleinen Kindern – und das fünfte wurde einige Wochen nach seinem Tode geboren. Ein alter Vater, der schon viel schweres durchgemacht hatte, erhielt Anfang September die Nachricht, sein Sohn sei vermisst. Die folgenden Wochen und Monate des Wartens brachen für ihn die tiefsten Erschütterungen mit sich: Am Tage vor Weihnachten musste ich ihm die zurückgekommenen Sachen seines (also jedenfalls gefallenen) Sohnes zustellen, ein unendlich schwerer Gang.

„Jede nähere Nachricht fehlte, alles Nachforschen, woher die Sachen kamen, war vergeblich“, erinnert sich Balke. Auch der zweite Sohn dieses Vaters fiel im Krieg: „Damit war all sein Lebensglück zerbrochen.“ Sein Haus war bis Anfang 1916 das einzige, in dem um zwei Kriegsopfer getrauert wurde.

Allein zum Ende 1915 waren aus der Gemeinde 38 gefallen, oftmals überbrachte Balke die Nachricht: „Bei den Angehörigen die ersten Ausbrüche eines wilden Schmerzes miterleben zu müssen, ist eine böse Sache.“