Ushuaia/Bad Laasphe. Bis zur südlichsten Stadt der Welt, sind es nur 250 Kilometer. Bis sie dorthin aufbricht, lernt Achatzi die Schattenseiten Punta Arenas kennen.
Angekommen und doch nicht da: Als Lisa Achatzi von ihrem Campingplatz am Rande des Nationalparks „Torres del Paine“ aufbrechen will, streikt das Material. Drei Mal scheitert der Versuch den Fahrradschlauch zu flicken. Auf den anfänglichen Frust in aller Früh folgt die Einsicht am Mittag: Sie beschließt in eine nächst größere Stadt zu trampen. Nach kurzer Wartezeit hält ein Pick-up in Richtung Puerto Natales an. Das Fahrrad wieder funktionstüchtig, fährt sie von dort aus weiter in Richtung Feuerland. Auf dem Weg dorthin kommt sie in Punta Arenas (125.000 Einwohner) an, der letzten Großstadt Südpatagoniens an.
Von Angst befreien
Ab hier beginnt für Achatzi ein innerer Countdown. Denn bis Ushuaia, die südlichste Stadt der Welt, sind es nur noch 250 Kilometer Luftlinie. Bis sie dorthin jedoch aufbricht, lernt Achatzi zunächst die Schattenseiten Punta Arenas kennen. Nach Wochen in purer Natur, wird Achatzi hier mit der Kehrseite menschlicher Realität konfrontiert. Auf den Straßen sieht sie immer wieder „auf Drogen hängengebliebene Menschen“. Die letzte Großstadt vor Kap Hoorn, die einst als Station auf einer der wichtigsten Handelsstraßen der Erde reich wurde, verlor durch den Bau des Panamakanals ihren Wohlstand. „Hier wird einem schnell wieder klar: die Welt ist nicht nur schön, voll großer Berge und mit blauem Himmel. Ich bekomme hier gerade einen kleinen Lebensschock.“
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An einem Morgen verlässt Achatzi ihr Hostel, um im Supermarkt einzukaufen. Da bekommt sie plötzlich ein komisches Bauchgefühl. Als sie sich umdreht, steht ein Mann in unmittelbarer Nähe hinter ihr. Achatzi macht den Test und verlangsamt ihr Tempo – der Mann tut dasselbe. Sie bleibt an einer Kreuzung stehen und überquert mehrmals im Quadrat die Straße – der Mann tut dasselbe. Achatzi ruft auf Spanisch: „¡Déjame en paz!“ (dt. „Lass mich in Ruhe!“). Doch der Mann reagiert nicht. Achatzi beschließt zu rennen, doch der Mann verfolgt sie. Im Vollsprint biegt sie um ein paar Ecken und findet in einer Tankstelle Zuflucht. Als sie sich umdreht, ist der Mann verschwunden. Die Menschen in der Tankstelle beruhigen sie, der Besitzer gibt ihr Wasser. Durchatmen, warten, von Angst befreien, beim Verlassen in der Nähe von Menschen bleiben.
Tränengas im Kinofoyer
Nach diesem Schock trifft sie im Hostel auf Pablo und Ewan, zwei Reisende, die ebenfalls mit dem Fahrrad auf dem Weg nach Ushuaia sind. Mit ihnen verbringt sie fortan Zeit, sie verstehen sich auf Anhieb und beschließen gemeinsam ins Kino zu gehen. Als sie dort sitzen, hören sie laute Geräusche von außerhalb. Dann fällt der Strom aus, der Kinofilm reißt ab. Draußen auf der Straße sind Proteste ausgebrochen. Als die Drei in das Foyer des Kinos gehen, bemerken sie bereits Tränengas. Sie rennen hinaus auf die Straße und versuchen der Krawalle zu entkommen. „Auf unserem Weg haben Leute Sachen abgefackelt und Straßenschilder aus dem Boden gehoben. Als dann der Wasserwerfer kam, sind wir nur noch gerannt“, schildert Achatzi. Durch einen Nebenstraße können sie entkommen.
Surreale Gefühle
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Von jetzt an endet die schlechte Zeit in Punta Arenas. Die Erlebnisse haben Achatzi, Pablo und Ewan enger zusammengeschweißt und formen eine gemeinschaftlichen Trotzhaltung. Sie gehen aus, feiern Pablos Geburtstag und beschließen bis Ushuaia gemeinsam zu fahren. Achatzi: „Für mich ist es ja das erste Mal, nicht alleine zu fahren und ich merke, dass es auch Spaß machen kann. Die beiden sind genau mein Schlag Mensch. Es ist ein bisschen so, als wären meine Brüder hier. Und endlich gibt es Bauchmuskeltraining – weil wir so viel lachen.“ Mitten in die gute Stimmung springt Achatzis Kilometerzähler auf 10.000. Es fühle sich absurd an, sagt Achatzi. „Ich hab auch bereits meinen Rückflug gebucht, im Juni startet mein Flieger nach Europa. Es ist verrückt, denn irgendwie bin ich so tief drin in der Reise und jetzt merke ich gerade, wie weit ich gekommen bin und dass es ‚bald‘ wieder zurückgeht. Das ist alles total absurd.“
Für den guten Zweck
19.000 Kilometer lang ist Lisa Achatzis Route. Auf ihrer Tour besucht sie SOS-Kinderdörfer, für ihre Idee namens „Wheels of Fortune“ konnte sie schon 600 Euro an Spenden sammeln.
Zwei Mal im Monat berichtet unsere Zeitung von ihrer Reise, per Sprach-Nachrichten schildert die aus Bad Laasphe stammende Weltreisende ihre Eindrücke und Erlebnisse.
Nach einer Nacht Wildcampen an einem See, kommt Achatzi mit ihren Begleitern wohlbehalten in Ushuaia an. Sie dachte, dass sich das „Ende der Welt“ emotionaler anfühlen würde. Doch es sei vielmehr ein unwirkliches, fast surreales Gefühl. In einer ruhigen Minute schaut sie sich Südamerika auf einer Landkarte an und fragt sich: „Bin ich das wirklich mit dem Fahrrad gefahren?“