Puerto Puyuhuapi/Bad Laasphe. Die Bad Laaspherin ist auf dem Weg zur südlichsten Stadt der Welt. Lisa Achatzis zwölfte Etappe erzählt von Schnittwunden und unbändiger Natur.
Es gibt Begriffe, die beim ersten Hören ähnlich, im Endeffekt aber völlig unterschiedlich sind. Das Wort „Einsamkeit“ zum Beispiel wird gemeinhin negativer aufgefasst als „Alleinsein“. Denn wer einsam ist, sehnt sich nach Kontakten und hat den Wunsch dazuzugehören. Macht jemand jedoch etwas alleine, klingt das befreiend und wohltuend.
Bei Lisa Achatzis Reise durch Südamerika kommen beide Gefühlszustände vor. War sie in den Bergen Kolumbiens über jede zwischenmenschliche Kommunikation froh, genießt sie nun die Abgeschiedenheit Patagoniens. Oft hat sie vom Nirgendwo erzählt – jetzt fühlt sie es. Denn am „Ende der Welt“, wie der Südzipfel Südamerikas auch heißt, „wird einem das Verhältnis zur Natur noch viel deutlicher“, sagt Achatzi.
Schokolade als Dankeschön
Die Gegend zwischen den chilenischen Nationalparks Alerce Andino und Corcovado ist voller Seen, Flüsse und Vulkane – ein Paradies für Radfahrer und Wanderer. Doch nicht alle Strecken kann Achatzi dort mit dem Fahrrad absolvieren, manche Landstriche sind nur mit Booten und Fähren zu erreichen. Bei einer Überfahrt lernt sie Tomas und Chechu kennen, zwei Argentinier aus Buenos Aires, die ebenfalls mit ihren Rädern unterwegs sind.
Achatzi versteht sich mit den beiden auf Anhieb so gut, dass sie den Weg gemeinsam fortsetzen. Wieder an Land, halten sie nach geeigneten Orten zum Zelten Ausschau, als Chechu plötzlich sagt: „Oh, ich glaube ich habe mich geschnitten“.
In seiner Wade ist ein langer und tiefer Schnitt zu sehen. So emotionslos Chechu die klaffende Wunde bemerkt, so schnell geht er kreidebleich zu Boden. Erst jetzt verstehen sie, was passiert ist.
Ein scharfes Steakmesser war aus Chechus Tasche gefallen und hatte sich tief in sein Bein gebohrt. „Ich habe noch nie zuvor so viel Blut gesehen“, sagt Achatzi. Angler kommen ihnen zu Hilfe und bringen die beiden Argentinier mit dem Auto ins nächste Krankenhaus nach Puerto Varas – 70 Kilometer entfernt.
„Jetzt sitze ich hier gerade mit dem ganzen Gepäck und den Fahrrädern der beiden Jungs und habe null Ahnung, wie es weitergeht und wann sie wiederkommen“, sagt Achatzi aufgewühlt.
Es ist 2 Uhr nachts, als die beiden zurückkommen. Chechu wurde mit zwölf Stichen genäht. Sie haben Schokolade mitgebracht – als Dankeschön für Achatzi. In Buenos Aires wird man sich in ein paar Wochen wiedersehen.
Unwirkliche Zahlen
Nach dem Schock ist für Achatzi vor der Ruhe. Sie fährt alleine weiter, viele Kilometer verbringt sie auf der legendären „Carretera Austral“, eine 1300 Kilometer lange Straße in Chile.
Erst schlägt sie ihr Zelt unter Brücken auf, dann kommt sie für ein paar Tage bei einer Familie unter: „Es sind Freunde von einer Freundin, die hier ein veganes Restaurant betreiben. Ich spiele viel mit dem sieben Monate alten Sohn und den drei Hunden. Es tut gut, sich zu unterhalten!“
Menschenleere Gegenden
Als sie wieder auf ihr Rad steigt, geht es immer tiefer hinein in menschenleere Gegenden. In 120 Kilometern fährt sie an einem einzigen Dorf vorbei – bestehend aus drei Häusern. „Natur, Natur, Natur. Es wird von Stunde zu Stunde schöner, einfach nur atemberaubend!“, schildert Achatzi begeistert.
Es ist der Punkt, an dem sie das erste Mal über Ushuaia nachdenkt, die südlichste Stadt der Welt. Achatzi wird bewusst, dass sie sich jenem Ort nähert, von dem sie aus, erstmalig seit August, wieder Richtung Heimat fährt: „Der Gedanke, nicht mehr nach Süden zu fahren, kommt mir gerade total surreal vor.“
Es sind auch die unwirklichen Zahlen, die ihr durch den Kopf gehen. Von ihrem Startpunkt Medellín bis nach Ushuaia wären es dann 7000 Kilometer – Luftlinie wohlgemerkt.
Unglaublich weit weg
An der Aufgabe, die Landschaft Patagoniens zu beschreiben, arbeiten sich seit Jahrhunderten Literaten und Naturforscher ab – Achatzi steht dem in nichts nach. In Peru habe sie auch einsame Dörfer gesehen, doch die hätten trotzdem einen Minimarkt zum Einkaufen gehabt.
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Das sei hier anders: „Kommt man hier mal an einem Zeitungsstand vorbei und liest die Schlagzeilen, dann fühlt sich das unglaublich weit entfernt an. Es ist alles noch unberührter, die Natur hier trägt etwas Ursprüngliches in sich. Das Wasser ist überall klar und sauber. Man fühlt sich klein und spürt, dass alles miteinander verbunden ist. Ich merke regelrecht, dass ich mich dem ‚Ende der Welt‘ nähere.“