Bad Berleburg. Felix Riedel aus Bad Berleburg über Nachhaltigkeit in Bad Berleburg, sein Engagement für unter Hexenverfolgung Leidende und „den Wittgensteiner“.

Dr. phil. Felix Riedel ist promovierter Ethnologe. Und er engagiert sich auf vielfältige Weise für Spezialthemen. Welche und warum, darüber spricht er im Interview mit unserer Redaktion. Aber auch über „den Wittgensteiner“.

Warum ist Bad Berleburg trotz kürzlich erworbenem Nachhaltigkeitspreis aus Ihrer Sicht nicht wirklich nachhaltig?

Dr. Felix Riedel: Ein Preis ist immer schlechter als eine bedarfsgerechte Planung und Entlohnung. Das Wisent-Projekt finde ich unterstützenswert – der Artenschutz profitiert ungemein von den Waldlichtungen. Dahingehend finde ich verständlich, dass Anrainer Entschädigung wollen – aber auch, dass das Projekt sich auf die harten Konflikte eingelassen hat. Das erfordert viel Mut. Dafür darf es ruhig Anerkennung geben. Was Nachhaltigkeit angeht: Ich komme aus der Jugendumweltbewegung der 90-er. Wir haben damals schon den Nachhaltigkeitsbegriff kritisiert und die Tendenz zum Greenwashing beobachtet. Wir brauchen Ressourcen-Neutralität. Davon ist Bad Berleburg und übrigens jede Stadt in Deutschland himmelweit entfernt. Wenn Sie mich selbst fragen, ob ich nachhaltig lebe, verneine ich das. Es geht nicht in Deutschland.

Wie geht Bad Berleburg mit seinen Ressourcen um?

Wir haben hier in Bad Berleburg eine komplette städtebauliche Fixierung auf das Auto. Da hat man mindestens in den letzten 20 Jahren einiges verschlafen. In Bad Berleburg fand ich im Haushalt unter dem Punkt „Natur und Landschaft“ nur einen Posten: Wirtschaftswege. Mit der ungeprüften Übernahme der IHK-Forderungen hat man ohne weitere Diskussion den weiteren Flächenverbrauch besiegelt. Ansonsten wird alles auf Fördergelder ausgerichtet. Besondere Ambitionen im Artenschutz oder ressourcenschonendes Wirtschaften kann ich beim besten Willen nicht erkennen. Immerhin haben die Grünen in Kooperation mit dem NABU die ökologische Wegrandbewirtschaftung durchsetzen können.

Seit kurzem engagieren Sie sich für die Fraktion der Grünen auch im Ausschuss für Planen, Bauen, Wohnen und Umwelt. Wird aus diesem politischen Engagement in der Bad Berleburger Kommunalpolitik womöglich noch mehr – zumal Sie sich im Namen der Grünen in letzter Zeit zu Themen wie Goetheplatz oder „Industrie-Region im Grünen“ geäußert haben?

Ich bewundere an anderen Kommunalpolitikern, aber auch am ehrenamtlichen Naturschutz vor Ort das institutionelle Wissen, und das ist über Jahrzehnte gewachsen. Ich wohne erst seit anderthalb Jahren hier. Da

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stehe ich oft wie der Ochs vorm Berg und suche mir sehr gut aus, wo ich Fachwissen einbringen und mit inhaltlicher Kritik etwas beitragen kann: im Naturschutz, in der Landwirtschaft, in der Integration, mitunter gewerkschaftliche Fragen. Mit Kritik macht man sich aber meinen Erfahrungen zufolge in Deutschland nicht beliebt, obwohl wir viel mehr Kritikfähigkeit bräuchten.

Ein Blick ins Internet zeigt, dass Sie unter anderem Vorsitzender eines Fördervereins sind, der sich um „Hilfe für Hexenjagd-Flüchtlinge“ kümmert (www.hexenjagden.de). Wofür genau setzt sich diese Organisation ein?

Es ist ein sehr kleiner Verein, ausschließlich ehrenamtlich, sieben Personen. Wir sammeln Spenden und finanzieren ein hochspezialisiertes Projekt ghanaischer Sozialarbeiter, die mit älteren Frauen arbeiten, die man als Hexen beschuldigt hat. Für meine Promotionsforschung habe ich 150 dieser Frauen und einige Männer interviewt. Etwa 60 Prozent wurden gefoltert oder geschlagen. Das sind Menschen, die nach der Flucht aus den Dörfern oft nicht einmal ihre Kleider mehr am Leibe hatten und dann in Ghettos versuchen, zu überleben. Da die ghanaische Regierung nicht wirklich handelt, habe ich beschlossen, alles mir Mögliche

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zu unternehmen – und viel Zeit für den Aufbau des Projekts geopfert, insgesamt etwa 100.000 Euro an Spenden im Inland eingeworben. Damit konnten wir seit zehn Jahren ein extrem wichtiges Pionierprojekt am Leben erhalten, auch wenn es immer wieder sehr schwer ist, weil das Thema einfach den meisten Menschen doch recht ungewohnt ist und erst einmal viele Fragen aufwirft. Wir freuen uns da über jede Spende und ich erzähle gern ausführlich davon. Am Hessischen Staatsarchiv Marburg wird am 18. Februar eine Fotoausstellung von mir zum Thema eröffnet.

Und was von Ihren Forschungen findet sich nun in Ihrer Dissertation wieder?

In meiner Dissertation habe ich untersucht, wie ghanaische Filme Hexereivorstellungen verbreiten und wie Hexenjagden dann tatsächlich ablaufen. Meine zentrale Frage war, wie auf einer lokalen Ebene Aufklärung funktioniert und stattfindet: Warum die einen Menschen sich gegen Anklagen entscheiden und andere nicht. Mein Professor nahm mir dann ausgerechnet mein Engagement für Notleidende sehr übel und verhinderte mein Fortkommen in einem sehr kleinen Fach mit ohnehin sehr begrenzten Möglichkeiten. Er war aber nicht

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die einzige Hürde. Über Universitäten kann ich bei allem Respekt vor der gewaltigen Wissensproduktion heute wenig Gutes sagen. Ich habe nicht gesehen, dass die Besten nach oben kommen – und Ideologien wirken mindestens ebenso stark wie außerhalb der Unis.

Ihr Internet-Auftritt www.felixriedel.net zeigt, dass Sie auf mehreren Spezialgebieten unterwegs sind. Mit welchem Erfolg?

Ich habe mich immer für Vieles interessiert. Als Jugendlicher viel Zoologie, da bin ich immer mit anderen Jugendlichen auf naturkundliche Freizeiten gefahren und habe viel gelernt, zuerst interessierten mich Schmetterlinge, dann Libellen, Heuschrecken, Amphibien. Dann fing ich im Studium doch mit Ethnologie an und wollte immer mehr auch über Konflikte und Psychologie wissen, habe viel über Guerillakriege, Genozide und Antisemitismus gelesen. Und wenn man ohnehin mal hingesehen hat, auf diese dunkle Seite der Zivilisation, dann kann man auch von den Zusammenhängen nicht absehen.

Und wohin hat Sie das gebracht?

Mein Engagement gegen Antisemitismus zum Beispiel führte mich fast automatisch zum Islamismus, zur

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neuen Rechten, zu Medienpropaganda und Rassismus, und darüber publiziere ich Artikel und halte Vorträge, für die ich deutschlandweit anreise. Es sind aber nicht gerade Wohlfühlthemen, weil ich diese Phänomene bis in die Mitte der Gesellschaft verfolge. Mein Publikum ist meist recht klein, aber hochmotiviert, neugierig und auch willens, Kritik zu hören, die einen unter Umständen selbst in Frage stellt, verunsichert und dadurch weiterbringt. Trotzdem, ohne die Unterstützung meiner Familie wäre mir das nicht möglich.

Seit 2018 sind Sie Mitglied im Naturschutzbund Deutschland (NA­BU) und sprechen auch in Wittgenstein etwa über das Verhältnis zwischen Naturgärten und Insektensterben. Ist Ihr NABU-Engagement womöglich eines auch mit weitergehender Perspektive?

Ich engagiere mich für Menschen und Natur, weil beides zusammenhängt. Aus Artenvielfalt kann man viel lernen über Evolution, Ästhetik, Zusammenhänge. Das hat die Aufklärung so erfolgreich gemacht. Für viele

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Leute ist Natur grüner Brei um uns herum. Ich finde Artenvielfalt einfach extrem faszinierend. Bei jedem Schritt finde ich Überraschungen, Spuren, es macht mein Leben reicher. Deshalb konnte ich den dramatischen Rückgang der Artenvielfalt seit Jahrzehnten beobachten. Ich werde auch als Naturparkführer im kommenden Jahr mehrere Wanderungen anbieten.

Sie kommen aus Marburg und leben nun in Bad Berleburg. Fühlen Sie sich mittlerweile als Wittgen­steiner?

Nein. Tut das der Wittgensteiner denn selbst? „Der Witti“ ist doch vor allem dann „Witti“, um kein Siegerländer oder schlimmer noch Sauerländer zu sein, nicht wahr? Und so ist es in Siegerland und im Sauerland dann andersrum, aber überall geht es den Armen schlecht und den Reichen gut. Mein Ideal ist das der Solidarität von Individuen. Ich bin Weltbürger und treffe überall faszinierende und wunderbare Menschen – und leider auch viel Borniertheit und Selbstsucht. Bad Berleburg hat zudem eine lange Geschichte von Ausbeutung durch den Adel und dann die Verfolgung von Juden und Zigeunern durch die vielen Nazis im

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Ort. Waren das nicht alles „Wittgensteiner“? Und wer ist das heute, „Wittgensteiner“? Die Täter? Die wenigen überlebenden Opfer? Die Nachkommen beider? Einfach alle und Schwamm drüber? Das verstehe ich jedenfalls noch nicht so ganz.

Und da möchten Sie nicht dazugehören?

Einfach nur bei Kollektiven dazugehören wollte ich nie. Der Patriotismus und der Lokalpatriotismus – das soll doch nur die Konkurrenz der Menschen untereinander verschleiern. Wenn man Menschen vermitteln kann, dass sie ohne Angst verschieden sein dürfen, dass sie vor allem freie, gleiche Menschen sind, das ist immer noch ein Fortschritt.