Warstein. . Dieser Mann ist in Bewegung, immerzu. Stillstand? Für Marcus Schiffer undenkbar. „Wer Dinge bewegen will, muss sich selbst auch bewegen.“ Ein Satz wie gemacht für einen “Talk am Turm“ mit dem Hauptschulleiter.
Es ist kurz vor den Herbstferien, eigentlich müsste dann doch langsam Ruhe einkehren in der Schule, oder? „Theoretisch ja, aber irgendwie entwickelt sich dann ja doch alles immer anders“, erzählt Marcus Schiffer. Arbeiten werden geschrieben, Konferenzen abgehalten, Praktikumsbesuche absolviert und die Eltern entscheiden über die Sekundarschule – der Stress der letzten Schulwoche vor den Ferien scheint dem Hauptschulleiter nichts auszumachen. „Wieso auch? Ich liebe meinen Beruf.“
Wer den Hauptschulleiter jemals mit Schülern erlebt hat, ahnt, dass dieser Mann diesen Satz genauso meint, wie er ihn sagt. In den kommenden anderthalb Stunden bestätigt sich diese Vermutung in einem leidenschaftlichen und angenehm nachvollziehbaren Plädoyer für den Glauben an das Potenzial jedes einzelnen Menschen.
Keine inhaltsleeren Phrasen
Denn genau das ist es, was Marcus Schiffer antreibt, was ihn in Bewegung hält: „Ich glaube, dass jeder Mensch Potenzial hat; das ist quasi mein Menschenbild. Und deswegen macht es mir so große Freude, dieses Privileg zu haben, an der pädagogischen Entwicklung eines Menschen mitwirken zu dürfen.“ Pathetisch klingt dies, könnte man vermuten. Ist es nicht.
Der 40-jährige Pädagoge drischt keine Phrasen, die gut klingen und nichts enthalten; er glaubt an das, was er sagt. Auch daran, dass Stillstand Kontrollverlust bedeuten kann. Das hat Schiffer bereits in seinen Anfangsjahren als Lehrer erlebt: Die beruflichen Aussichten am Ende seines Referendariats an einem Bürener Gymnasium waren nicht gerade rosig, es gab zu viele Lehrer.
Doch damit wollte sich der gebürtige Kölner nicht zufrieden geben: „Ich hatte diesen Drang, ich wusste, dass ich unbedingt als Lehrer arbeiten wollte und das musste an dieser Stelle einfach weitergehen.“ Also klopfte Schiffer im wahrsten Sinne des Wortes beim Schulamt an: „Ich habe zum Schuldezernenten gesagt: ‘Hier bin ich, ich will als Lehrer arbeiten, bin mit meiner Ausbildung fertig, was habt ihr für mich?’“
Zwei Wochen lang wiederholte Schiffer dieses Spiel, bis er eine Vertretungsstelle in Soest angeboten bekam – an einer Hauptschule. Als ausgebildeter Gymnasiallehrer? Schiffer zögerte nicht eine Sekunde. „Die Arbeit in beiden Systemen bereitet mir sehr viel Freude. Am meisten natürlich in meinem jetzigen System.“
Das System „Schule“ gestalten
Da ist es, dieses Wort: System. Schiffer verwendet es gerne, im Laufe unseres Gesprächs bestimmt allein ein Dutzend Mal. System. Eigentlich ein negativ konnotiertes Wort; es klingt nach Kontrolle, Machtausübung, Gefangensein. Nicht für Schiffer: „Ich interessiere mich für Systeme, besonders für das System Schule. Dort müssen wir uns jeden Tag fragen: Was müssen wir tun, um die Bedingungen für die Schülerinnen und Schüler noch besser zu machen?“
Der Schüler Marcus Schiffer hatte das große Glück, Lehrer zu erleben, die ihn begeisterten. „Das waren Menschen, die jeder für sich eine Persönlichkeit waren. Sie haben keine Rolle gespielt, sie waren echt. Und das ist als Lehrer entscheidend, ich muss authentisch sein.“
Die „Rolle“ des Schulleiters strebte er selbst daher ganz bewusst an, um „dem System Schule noch besser helfen zu können, um Dinge für die Schüler bewegen zu können“. Dazu braucht es Nähe. Mit dem ganzen Herzblut, Elan und Idealismus eines Berufsanfängers wagte sich Marcus Schiffer in seiner ersten Station an der Thomä-Hauptschule in Soest an genau diese Aufgabe: Von der fünften bis zur zehnten Klasse begleitete er eine Gruppe Schüler als Klassenlehrer. Auffällig: Er spricht von „Begleitung“, nicht von „Klassenleitung“. „Ich habe diese Schüler fast adoptiert, das kann man wohl so sagen. Rückblickend war das eine sehr unprofessionelle Distanz. Wir haben sehr vieles gemeinsam durchlebt, positiv wie negativ.“
Nur wer selbst begeistert ist, kann auch Schüler begeistern
Mit dem Abschluss der Schüler kam für Marcus Schiffer die Frage: Was jetzt? Einfach so weitermachen und die nächste Klasse übernehmen? „Ich habe gemerkt, wie viel meines Herzens ich dort hineingegeben habe.“ Eine Veränderung musste her, er wollte mehr gestalten, mehr initiieren können. Der Posten des Konrektors an der Hauptschule in Belecke, von dem aus er später zum Schulleiter wurde, bot sich da geradezu an.
Mittlerweile sind wir am Turm angelangt und – typisch Lehrer? – natürlich gehen wir die selbst gestellte Aufgabe an, hochzuklettern, trotz miserabler Sicht und anhaltendem Nieselregen. „Na klar müssen wir da jetzt hoch, die Aufgabe ist gestellt, also erreichen wir die jetzt auch.“ Auf dem Weg nach oben verrät Marcus Schiffer einen Gradmesser, wie man ein guter Lehrer wird – und vor allem auch bleibt: „Ich muss Freude an meiner Arbeit haben. Das ist wie in jedem anderem Beruf auch. Wenn ich als Lehrer von etwas begeistert bin, dann kann ich auch die Schüler begeistern.“
Abwarten wäre fatal
Wer auf der Plattform des Lörmecketurmes bei eisigem Wind und Regen feststellt: „Das hier ist doch toll, das ist Zuhause“, der kann wohl ohne Zweifel als begeisterungsfähig bezeichnet werden. Marcus Schiffer ist begeistert – von Bewegung. Und die gibt es bekanntermaßen gerade viel in der Warsteiner Schullandschaft.
In der Projektgruppe, die das pädagogische Konzept für die Schule erarbeitet hat, war Marcus Schiffer von Anfang mit Herzblut dabei. „Die Einführung dieser Schulform ist eine Notwendigkeit.“ Pause. Dann: „Das muss einfach jeder spüren, der täglich im Schuldienst unterwegs ist. Wir müssen neue Wege gehen in der Bildung; es ist nicht der demografische, sondern der gesellschaftliche Wandel, der dies notwendig macht. Darauf müssen wir reagieren. Denn wir dürfen eines nicht tun: Abwarten. Damit verschenken wir das Potenzial unserer Schüler. Für sie ist jeder Tag Schule wichtig.“
Wieder eine Pause, aber nur, um kurz Luft zu holen. „Zuschauen können wir alle vor dem Fernseher, aber irgendwann sollten wir uns mal aufraffen und das Programm selber gestalten.“ Eben in Bewegung bleiben. Eines liegt dem Hauptschulleiter besonders am Herzen: „Dass wir jetzt eine neue Schulform einrichten, bedeutet nicht, dass unsere jetzigen Systeme schlecht sind. Überhaupt nicht. Ich bin doch selbst Teil dieses Systems und weiß, wie gut dort gearbeitet wird. Aber es wird nun mal in der Gesellschaft nicht mehr so stark nachgefragt.“
Die Hauptschule Belecke sei die Schule, an der sein Herz hänge und „wo mein Herz dranhängt, dafür hört es nicht auf zu schlagen, auch wenn es andere Arbeitsfelder gibt.“ Die Leitung der Sekundarschule Warstein zum Beispiel? Nur ein minimales Zögern. „Jeder, der sich in meiner Situation befindet, hätte Interesse an dieser Stelle.“ Vor allem jemand, der ständig in Bewegung ist.