Warstein. Talk am Turm mit Volkert Bahrenberg. Der Mann ist auch bei gefühlten 20 Grad Minus sofort auf Betriebstemperatur, sprudelt gleich los. Der Pfarrer im Unruhestand wünscht sich mehr Aufrichtigkeit von der Kirche.
Sie wissen, was passiert, wenn man eine Flasche Bier kräftig schüttelt und anschließend öffnet: Die Flüssigkeit kommt in einer Fontäne herausgeschossen und sprudelt dann aus der Flasche, bis diese nahezu leer ist. So ungefähr muss man sich einen Talk am Turm mit Volkert Bahrenberg vorstellen: Mit einem, aber recht gravierenden Unterschied: Der Mann ist auch nach 90 Minuten noch nicht leer. Im Gegenteil. Wir hätten mühelos ein zweites Mal gehen können - der Gesprächsstoff wäre uns nicht ausgegangen.
Eigentlich sollte Volkert Bahrenberg – ich habe ganz vergessen, ihn zu fragen, warum seine Eltern ihm dieses „t“ an den schönen Vornamen Volker gepappt haben – also eigentlich sollte er schon für die Weihnachtsausgabe mein Talkgast sein. Aber dann kam der erste Wintereinbruch und der Weg zum Lörmecke-Turm war unpassierbar.
Jetzt ist es fast Ostern und der Winter ist immer noch da. Eisig ist er da. Vor allem hier oben am Stimmstamm. Als wir aus dem Auto steigen, empfängt uns ein rasiermesserscharfer Wind. Wir ziehen unsere Mützen ein wenig tiefer und stapfen los.
Wer mit Pastor Bahrenberg, Pastor im Ruhestand müsste es korrekt heißen, ins Gespräch kommen will, braucht kein Vortasten, sondern kann gleich in die Vollen gehen. Der Mann ist auch bei gefühlten 20 Grad Minus sofort auf Betriebstemperatur, sprudelt gleich los.
Blick in die Vergangenheit
Durch seine Biografie galoppieren wir im Parforce-Ritt. Streifen nur kurz seine Kindheit und Jugend in Dortmund („gläubiges, gutbürgerliches Elternhaus“) und sind schon mittendrin in der prägenden, ja vielleicht vorentscheidenden Lebensphase. „Ich wollte immer genau wissen, wie alles geht im Leben. Ich wollte es nicht nur wissen; ich wollte es selbst ausprobieren.“
Deshalb ist er nach dem Studium der Evangelischen Religion („ursprünglich wollte ich Schulmusiker werden“) und dem 2. Examen auch nicht sofort in den Dienst der Kirche eingetreten, sondern erst einmal „malochen“ gegangen. Malochen in einem metallverarbeitenden Betrieb in Bochum. „Dort habe ich mir beim Schleifen mein Gehör versaut.“
Dass er nicht sofort Pastor sein wollte, hatte neben der Neugier aber auch noch einen anderen Grund: „Ich hatte von der Religion eigentlich die Nase voll. Ich hatte das Gefühl, Kirche passt nicht zu mir und ich nicht zur Kirche.“
Das Leben war viel zu aufregend damals - die Zeit der Studentenrevolution. Leben in einer Kommune. „Mit Knackis und Drogenabhängigen. Die ganze Gesellschaft war damals in Aufruhr. Wir haben alles in Frage gestellt.“
Volkert Bahrenberg und der „Kulturschock Warstein“
Nach einiger Zeit hat es ihn aber dann doch zurück zur Kirche gezogen. Der Superintendent hat gesagt: „Wir brauchen solche Leute wie Sie.“ Dass man einen Querdenker wie ihn, einen Unruhestifter im positiven Sinne gebraucht hat, das hat ihm gefallen.
In Bottrop-Fuhlenbrock hat er seine erste Pfarrstelle angetreten. Auch das waren unruhige Zeiten. Das Presbyterium musste zurücktreten, weil es den Wirbelwind im Talar nicht haben wollte. Die Gemeinde aber wollte ihn.
In Bottrop hat er nicht nur seine Frau Carola kennen gelernt („irgendwann wusste ich, die isses; mit der willst du sogar Kinder haben“), sondern hat auch erste Kontakte zur Psychiatrie geknüpft. Das war entscheidend, um sich nach zehn Jahren Bottrop für die Stelle als Pfarrer in den Warsteiner LWL-Einrichtungen zu bewerben. Mit Erfolg.
„Tote Hose“ in Warstein
„Warstein“, räumt er ein, „war zunächst ein Kulturschock für uns. Wir haben gedacht, hier ist ja total tote Hose.“ Es hat ein halbes Jahr gedauert, bis sich diese Einstellung geändert hat, bis sie die gewisse Arroganz, die Menschen begleitet, die in einer Großstadt aufgewachsen sind und dann in eine Kleinstadt ziehen, abgelegt hatten. „Nach einem halben Jahr haben wir uns gesagt, wir müssen hier noch einmal ganz von vorn anfangen.“ Und das haben sie getan. Inzwischen liegt dieser „Neuanfang“ fast 30 Jahre zurück.
Wir haben uns mittlerweile durch Eis und Schnee und gegen den unabhängig böig blasenden Wind bis zum Lörmecke-Turm gekämpft. Unser Blick geht in 35 Meter Höhe. Die Vernunft sagt, dass man heute beim besten Willen nicht die 208 Stufen hochmuss. „Aber wenn wir schon einmal hier sind...“, werfe ich ein.
„Das stimmt“, antwortet der Pfarrer, räumt noch beiläufig ein, dass er leichte Höhenangst hat und stiefelt los. Was heißt „stiefelt“? Sprinten würde es besser treffen. Kaum hat er die erste Stufe betreten, zündet er den Turbo: „Normalerweise muss man den Vorderfuß belasten. Das verbrennt mehr Kalorien.“
Volkert Bahrenberg und das Thema Auferstehung
Fotograf Tim Cordes und ich haben Mühe, dem Wieselflinken zu folgen. Von oben höre ich seine Stimme: „Wir müssen ja sicherlich auch noch über Religion reden. Sie werden bestimmt noch fragen: Ist Jesus auferstanden - oder nicht?“
Ja, das werde ich fragen. Sobald ich wieder ruhig atmen kann. „Und“, schnaufe ich zwei Minuten später oben auf der Kanzel. „Ist er?“ – „Jau“, antwortet Bahrenberg und hat einen Heidenspaß über diese knackige Antwort. Und dann schiebt er nach: „Das Thema Auferstehung können wir unten verhandeln.“
Der Wind hier oben ist fast nerträglich. Er treibt die Tränen in die Augen, malträtiert die Haut mit Gefrierfachtemperatur durch und verschluckt fast jedes Wort. Wir treten den Rückweg an. Der wird deutlich entspannter als der Hinweg. Der Wind kommt nun von hinten. Die Sonne lässt ihre Kraft spüren. In den noch kahlen Ästen zwitschern die Vögel schon um die Wette. Und es muss doch Frühling werden . . .
Immer wieder Auschwitz
Unser Gespräch allerdings wird ernster. Wir widmen uns den zentralen Themen: Ostern, Auferstehung, Gotteserfahrung, was kommt nach dem Tod? Und Auschwitz. Immer wieder Auschwitz. „Das treibt mich um“, sagt der Pastor. „Je älter ich werde, umso mehr treibt mich das um. Ich rutsche in dieses Thema immer tiefer rein. Natürlich beschäftigt mich auch die Frage: Wie konnte Gott das zulassen? Die Osterbotschaft“, sagt er, „muss ja immer auch Auschwitz standhalten. Diese Welt ist gekennzeichnet durch Massaker: Auschwitz, Ruanda, Kosovo. Auch diese Wahrheit gehört zu Ostern, gehört zur Osterbotschaft.“
„Aber die Osterbotschaft“, werfe ich zaghaft ein, „ist doch eine frohe Botschaft.“ „Ja, ist sie. Und das macht es ja auch so schwierig. Wie kriege ich so etwas wie Auschwitz in diese Botschaft verpackt. Das ist wie ein Einschlag. Deshalb stottere ich hier auch so rum, wenn ich das erklären soll. Denn eigentlich kann man das alles doch gar nicht erklären: Jesus, dieser gute Mensch, der Gottesbote, hingerichtet am Kreuz, unter Qualen gestorben, auferstanden von den Toten. Das ist doch eine total irre, ja fast schon eine wahnsinnige Botschaft. Ich würde mir wünschen, dass die Kirche, zumindest die studierten Leute, wie wir Pfarrer es sind, einräumen, dass wir das alles nur stotternd erklären können.“
Rumpelstilzchen 2.0
Plötzlich bleibt er mitten auf dem Waldweg stehen. Trippelt von einem Bein auf das andere. Fuchtelt mit den Armen. Die Augen blitzen. Rumpelstilzchen 2.0. „Die Menschen wollen ja von der Kirche immer einen einigermaßen umfassenden Sinn geboten bekommen. Ich sage immer: Sorry, das kann ich nicht. Auch das gehört für mich zur Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit. Kirche hat nicht auf alle Fragen Antworten, kann sich auch nicht haben.“
Jetzt passiert etwas Ungewöhnliches. Wir schweigen. Wenn auch nicht lange. Unter unseren Füßen knirscht der harsche Schnee. Bahrenberg bleibt erneut stehen: „So über Glaubensfragen zu reden, ist nicht einfach. Das ist eine schwierige Intimität. Das ist ein bisschen so wie über Sex reden. Das macht man ja eigentlich auch nicht in der Öffentlichkeit.“ Und doch erzählt er weiter: Wenn er betet, wenn er jeden Abend betet, dann macht er das Licht im Zimmer aus. „Dann unterhalte ich mich mit Gott. Dann bete ich für andere Menschen. Für mich selber bete ich eigentlich nie. Mir geht es ja gut.“ Also ein Dialog mit Gott? „Ja, so ähnlich. Aber natürlich höre ich nicht seine Stimme.“
„Wir müssen uns um unser Leben kümmern“
Wir haben fast das Ende erreicht. Jetzt, auf den letzten Metern fühle ich mich wie Sebastian Vettel, der in Höchstgeschwindigkeit auf die Ziellinie zurast - und deshalb muss ich noch diese letzte, diese eine Frage stellen, die uns alle umtreibt: „Was kommt nach dem Tod?“
Bahrenberg schaut mich an, überlegt nur kurz: „Da stottere ich auch wieder rum. Aber eins glaube ich: Wenn der Mensch tot ist, ist er bei Gott. Wir müssen uns um die Frage, was nach dem Tod ist, nicht kümmern. Wir müssen uns um unser Leben kümmern.“