Warstein. . Antje Prager-Andresen war 57 Jahre alt, als es sie an die Kunstakademie nach Nürnberg zog. Im dunkelsten Kapitel ihres Lebens hatte sie ihr verschüttetes Kunsttalent wiederentdeckt. Seither kämpft sie für den Kunststandort Warstein.
Der Tag, an dem ich mit Antje Prager-Andresen zum Lörmecke Turm wanderte, war einer jener Tage, die für nichts anderes gemacht zu sein schienen; für nichts anderes als eine Wanderung zum Lörmecke Turm. Der Tag war blau und wolkenlos, mit wohligen 20 Grad angenehm temperiert und eine leichte Brise ging. Wir hatten uns vor einigen Wochen zu dieser Wanderung verabredet, nachdem ich ihre Laudatio auf den afrikanischen Künstler Dilomprizulike in der Musikschule Warstein gehört hatte.
Prager-Andresen hat den renommierten und weltweit bekannten Künstler, der bereits in London, Paris und New York und ausgestellt hatte, nach Warstein geholt. Kein leichtes Unterfangen, denn Warstein ist alles für einen Künstler, nur eben nicht London, Paris oder New York. Prager-Andresen hat Dilomprizulike dennoch bekommen, ihn nach Warstein gelockt; ihn, Dilomprizulike, den der britische „Independent“ zu den bedeutendsten Künstlern Afrikas zählt. In der Musikschule zeigt er momentan seine Ausstellung „Schöne bunte Dinge“.
Bei der Vernissage stellte Prager-Andresen Dilomprizulike vor, verwob biografische Angaben mit dessen Stil und künstlerischem Anliegen und zeichnete binnen zehn Minuten das punktgenaue Bild einer Künstlerpersönlichkeit, von der man das Gefühl hatte, sie zu verstehen, auch wenn man vorher noch keine Berührungspunkte mit ihr hatte.
Das hat mich beeindruckt.
Einen Tag später rief ich sie an und schlug ein Gespräch über Kunst vor und wir verabredeten uns für Anfang Juli.
Und da waren wir nun, an jenem Tag, der für nicht anderes gemacht zu sein schien als für eine Wanderung zum Lörmecke Turm, und beide waren wir nervös. Es war nicht unser verabredetes Thema, das uns nervös machte, nein. Ich war mir im Vorfeld ziemlich sicher, dass sich ein gutes Gespräch entwickeln würde (was es auch tat). Der Ursprung unserer Nervosität war, dass uns beiden eine Premiere bevor stand. Sie, Prager-Andresen, hatte noch nie ein längeres Interview mit einem Journalisten geführt und so wusste sie nicht so recht, was sie erwartete, und ich, der Reporter, war von einer beiläufigen Äußerung meines Fotografen Tim, ein wenig aus der Fassung. Auf dem Hinweg im Auto hatte er in einem Nebensatz fallen lassen, es sei üblich, mit seinem Interviewpartner nicht nur zum Lörmecke Turm zu wandern, sondern ihn auch zu erklimmen, was mich schaudern ließ angesichts meiner latenten Höhenangst.
Psychologiestudium statt Kunst
Doch das musste ich erst einmal beiseite schieben, verdrängen, um mich auf meine Gesprächspartnerin zu konzentrieren. Es war fast ein bisschen paradox: Während sich Prager-Andresen schon nach wenigen Minuten locker und gelöst auf das Gespräch mit mir einließ, stieg meine Nervositätskurve langsam aber stetig an, je näher wir dem Lörmecke Turm kamen.
In der Zwischenzeit bereiste ich mit Antje Prager-Andresen die wichtigsten Stationen ihres Lebens, in dem vor allem drei große Bereiche eine Rolle spielen: Ihre Familie, die Psychologie – ihre vormalige Profession – sowie ihre aktuelle Leidenschaft, die Kunst. Sie wuchs in Hamburg auf, mitten in den Wirren der Nachkriegsjahre, das Land lag in Schutt und Asche, zugrunde gerichtet von dem Allmachtswahnsinn der Nationalsozialisten. Sie wurde in bürgerlichen Verhältnissen groß, ihr Vater baute sich damals eine Existenz als selbstständiger Architekt auf, die Mutter arbeitete als Sekretärin.
Bereits als junges Mädchen durfte sie mit dem Vater an dessen Schreibtisch sitzen und sich an ersten Zeichnungen versuchen. Im Laufe der Jahre wurden ihre Zeichnungen immer ambitionierter. Beschäftigte sie sich anfänglich noch mit eher technischen Zeichnungen wie Schiffsrissen, versuchte sie sich später an romantischen Darstellungen des Hamburger Hafens. Damals liebäugelte sie bereits mit einem Kunststudium, doch als sie von der Aufnahmeprüfung an der Kunsthochschule hörte, verließ sie der Mut. Sie vertraute ihrem Talent nicht, dachte, sie würde es niemals schaffen, denn sie wusste bereits damals, dass viele Künstler – so talentiert sie auch sein mögen – nicht von ihren Werken leben konnten. Die Mutter hätte sie gern in einem soliden Kaufmannsberuf gesehen, doch sie setzte sich durch und schrieb sich in Hamburg für Psychologie ein, ihrer zweiten Leidenschaft.
Das Interesse für psychologische Themen hatte ihren Ursprung in der Grundschule. Diese attestierte ihr lediglich für die Volksschule geeignet zu sein aufgrund vermeintlicher fehlender sittlicher Reife. Die Mutter jedoch insistierte und erwirkte, dass ihre Tochter auf eine Realschule gehen konnte, die jedoch außerhalb von Hamburgs Stadttoren lag. „Diese Schule war ein Sammelbecken solch „gescheiterter Existenzen“ wie ich es eine war“, bemerkt sie während unser Wanderung süffisant. Gemeinsam mit anderen „gescheiterten Existenzen“ aus Hamburg bildetet sie eine Fahrgemeinschaft. In der Clique wurde Prager-Andresen rasch die Rolle der Lebensberaterin zugeteilt. Sie hatte schon immer ein lebhaftes Interesse an ihren Mitmenschen und bot ihren Freunden ein offenes Ohr, wenn diese mit ihren Problemen zu ihr kamen und nachdem das Kunststudium für sie in unerreichbare Ferne gerückt war, verschrieb sie sich der Psychologie.
Bilder wie Haikus
Mehr als 30 Jahre ihres Berufslebens verbrachte sie in diesem Bereich, davon einen Großteil als therapeutische Leiterin der Suchtrehabilitation in der LWL-Klinik in Warstein, bis sie eine schwere Erkrankung in die Knie zwang. 2001 lag sie im Maria Hilf auf der Intensivstation, ihr Leben stand auf Messers Schneide, doch die Ärzte zogen sie mit unermüdlichem Einsatz zurück ins Leben. Sie musste sich sich einer komplizierten OP unterziehen, dann ging es zur Reha nach Kassel, wo sie einen Kunsttherapie-Kurs besuchte. Es war ihr erster Berührungspunkt mit der Kunst nach langen Jahren. Sie zeichnete mit Kreide einfach ein bißchen vor sich hin, kleine Farbspiele, sie gingen ihr locker von der Hand und die Kursleiterin war zutiefst beeindruckt von ihren kleinen Werken.
So entdeckte sie in der wahrscheinlich dunkelsten Phase ihres Lebens ihr verschüttetes Talent wieder, das sie über die Jahre hatte brach liegen lassen. Die Leidenschaft war neu entfacht und als bereits absehbar war, dass sie aufgrund ihrer Erkrankung nicht mehr in der Lage sein würde, in ihrem Beruf zu arbeiten, schrieb sie sich im Alter von 57 Jahren für ein Kunststudium an der Faber Castell Akademie in Nürnberg ein. Seither hat sie sich in der Kunstszene im Kreis Soest, speziell in Warstein, fest etabliert - sowohl als Mitbegründerin der Initiative „Musik und Kunst - Kunst und Musik“ als auch als Künstlerin mit ihrem ganz eigenen Stil.
Über genau dieses Thema reden wir, kurz bevor wir den Lörmecke Turm erreichen, über ihren Stil, den Purismus in ihren Werken. Ihre Bilder bestechen zumeist durch kühle Reduktionen. Prager-Andresen orientiert sich an realen Dingen, die sie allerdings nicht gegenständlich sondern abstrakt darstellt. Der Aufbau der Bilder ist oftmals sehr schlicht und einfach, die Werke sind leicht zu überblicken, aber schwer zu fassen, denn irgendetwas brodelt unter der Oberfläche, irgendwas lauert da im Subtext, wie bei einem Haiku.
Die Rückkehr der Therapeutin
Als wir vor dem Lörmecke Turm stehen, sieht der Himmel über uns aus wie eine von Antje Prager-Andresens Farbflächen, auf die sie sich spezialisiert hat, nur weniger kühl, aber irgendwie genauso puristisch. Der Turm ragt vor uns in die Höhe, groß und mächtig, und eigentlich bin ich nicht erpicht darauf, den Turm zu besteigen, aber weil es Teil des „Talk am Turm“ ist, will ich auch nicht kneifen und weil die Treppen, die sich innerhalb des Turms in die Höhe schlängeln, mir tatsächlich einigermaßen begehbar vorkommen, stelle ich mich meiner Angst.
Kurz bevor wir die Treppen hochgehen, sagt Prager-Andresen noch, dass sie das oftmals mit Patienten gemacht habe, Traumatherapie, und ich scherze, dass dies jetzt wohl meine private Schocktherapie wird und tatsächlich werde ich von Treppenabschnitt zu Treppenabschnitt zunehmend angespannter und ab einer Höhe von ungefähr 35 Metern bin ich fast vollkommen hinüber, doch da kommt auf einmal die Therapeutin in Antje Prager-Andresen zum Vorschein und sie redet mir gut zu, lobt mich, und wir machen eine Pause. Manches von dem, was wir jetzt reden, geht unter, wird verschluckt von meiner Panik, die mir diese Höhe jenseits der Baumkronen mittlerweile bereitet, außerdem läuft das Band gerade nicht mit. Tim, mein Fotograf, fragt, ob sie sich manchmal Vorwürfe gemacht habe, wenn einige ihrer Suchtpatienten wieder rückfällig geworden sind, davon gebe es schließlich nicht wenige, und sie bejaht das.
„Das Therapieren ist halt manchmal wie der Kampf mit den Windmühlen“, sagt sie, „aber ich habe lange gebraucht das zu begreifen.“ Vielleicht weil sie zu wenig die kühle Analytikerin und mehr die Anteil nehmende Lebensberaterin war. Vielleicht ist das auch der Grund für den Purismus in ihren Bildern. Vielleicht ist dies ihr Versuch dieser komplexen Welt eine Ordnung, eine Übersicht, eine klare Gliederung, überzustülpen. So würde es vielleicht ein Analytiker deuten, aber in dieser schwindelerregenden Höhe bin ich nicht in der Lage, sie mit diesen Gedanken zu konfrontieren und bin nur noch froh, als wir wieder Boden unter den Füßen haben.
Der Rückweg gestaltet sich entspannt. Wir plaudern ungezwungen über Alltägliches, Familiäres, einer ihrer Söhne ist gerade nach Berlin gezogen. Doch da ist noch etwas anderes, das sie umtreibt: der Kulturstandort Warstein. Sie ist stolz auf die verschiedenen privaten Initiativen, die in diesem Bereich, gebildet haben. Besonders für die Kunstszene sei es nicht einfach. „Dilomprizulike war schon ein absoluter Glücksfall“, resümiert sie. Aber es geht noch mehr, glaubt sie, es lasse sich noch viel mehr bewegen in Warstein, denn: „Kunst bringt frischen Wind in die Stadt, Kunst belebt.“ Und deshalb ist es Warstein zu wünschen, wenn Prager-Andresens Bemühen um den Kunststandort kein Kampf mit Windmühlen würde.