Aßlar/Siegen. . Marie (5) lief die Treppe runter, hielt sich schreiend den Kopf. Ein geplatztes Aneurysma hatte eine Hirnblutung verursacht. Es ging alles so schnell. Wenige Minuten, die das Leben Familie Rösler für immer verändern. 15 Jahre lebte Marie in der Siegener Kinderinsel. Heiligabend starb das Mädchen.

Es ging alles von jetzt auf gleich. Marie, damals fünf Jahre alt, lief die Treppe herunter. Schreiend hielt sie sich den Kopf. Wenige Minuten, die das Leben der Familie Rösler grundlegend veränderten, ihre Welt zutiefst erschütterten. 15 Jahre ist das her. Im vergangenen Jahr ist Marie gestorben, an Heiligabend. „Wir hatten 15 Jahre Zeit, uns damit auseinanderzusetzen“, sagt ihr Vater Klaus Rösler.

Ein Wimpernschlag – ein Glücksmoment

Marie erlitt damals eine Hirnblutung, weil ein Aneurysma in ihrem Kopf geplatzt war. Seitdem lag sie im Wachkoma. „Mit Marie war keine direkte Kommunikation möglich“, sagt Maries Mutter Sabine Rösler. „Aber sie zeigte schon deutliche Reaktionen.“ Ein Wimpernschlag, ein Seufzen, der Puls, der sich beruhigt – was zunächst wie Zufall aussah, habe sich in gleichen Situationen immer wiederholt. „Marie konnte vom Rollstuhl aus nach ihren Möglichkeiten am Leben teilnehmen.“

Nach dem Schicksalsschlag wurde Marie zunächst in Gießen und in Kassel behandelt. Dann zog sie als eine der ersten Bewohner in die Kinderinsel der DRK-Kinderklinik Siegen, blieb dort acht Jahre lang. „Die Kinderinsel war für uns so etwas wie ein zweites Zuhause“, sagt Klaus Rösler über die Wohn- und Pflegeeinrichtung. Zwei- bis dreimal pro Woche fuhren Maries Eltern die 66 Kilometer vom hessischen Aßlar nach Siegen, um ihre Tochter zu besuchen.

Mit den Mitarbeitern der Kinderinsel seien sie über die Jahre fast zu einer Familie zusammengewachsen. „Ich bin mit 30 Krankenschwestern befreundet“, sagt Klaus Rösler. Groß ist daher die Freude, als Röslers für das Gespräch mit unserer Redaktion in der Kinderinsel ankommen.

Für Maries Eltern war es eine große Erleichterung, ihre jüngere von zwei Töchtern in guten Händen zu wissen. „Uns war, auch für Maries Schwester, ein normales Familienleben wichtig. Deshalb haben wir sie nicht zu Hause gepflegt“, sagt Sabine Rösler. „Man braucht einfach auch mal Zeit, um abzuschalten.“

Nicht nur Familie Rösler selbst musste lernen, mit Maries Erkrankung umzugehen. „Bei fast allen Mitarbeitern gab es irgendwann einen Aha-Effekt“, sagt Klaus Rösler. „Zunächst dachten immer alle, die liegt ja nur rum, die kann ja nichts.“

Eine Pfarrerin, die zweifelt – nur zunächst

So ging es auch Kinderinsel-Pfarrerin Dorothee Zabel-Dangendorf. „Als ich das erste Mal in Maries Zimmer gekommen bin, dachte ich: Was soll ich denn jetzt machen? Was ist das für ein schreckliches Leben?“

Bei der Beerdigung kamen 2000 Euro zusammen

Familie Rösler bat Trauergäste, auf Blumen zu verzichten und zu spenden.

2000 Euro kamen zusammen, die die Röslers der Kinderinsel übergaben.

Das Geld soll als Grundstock für eine Einrichtung für beatmungspflichtige Erwachsene dienen.

Die Pfarrerin beschäftigte sich mit der Wachkomapatientin, las Marie vor, machte Musik, brachte ihr im Herbst Kastanien ans Bett. Heute weiß sie es besser. „Ja, die Situation ist schrecklich.“ Dorothee Zabel-Dangendorf sucht nach den richtigen Worten: „Aber das stimmt nur ein Stück weit. Marie war auf ihre Art ein glücklicher Mensch.“

Im Rollstuhl Shoppingtour bei H&M

Im Herbst des letzten Jahres verschlechterte sich Maries Zustand. Die Ärzte konnten Infektionen immer schlechter bekämpfen. „Der Organismus war nicht mehr so belastbar“, weiß Sabine Rösler. Die Ärzte rechneten mit dem Schlimmsten. „Ich hab meine Tochter quasi erpresst“, sagt Maries Vater lächelnd. Er versprach ihr einen Shopping-Tag, wenn sie weiter durchhalte. Maries Zustand stabilisierte sich. „Vor Weihnachten haben eine Krankenschwester und ich sie im Rollstuhl mit zu H&M genommen. Das hat ihr gefallen.“

Die neuen Kleider trug Marie bei ihrer Bestattung.

Intensivstation mit Wohncharakter 

Einladende Flure mit freundlichen Farben und warmem Licht statt Neonbeleuchtung und sterile, weiße Wände. Auf den ersten Blick sieht die Kinderinsel nicht aus wie eine Intensivstation. Die Zimmer der Bewohner sind gemütlich eingerichtet, mit bunten Sofas, vielen Fotos, Büchern und Kuscheltieren im Regal, einem Tüllhimmel über dem Bett. „Unsere Bewohner können ihre Zimmer ganz individuell nach ihren Wünschen gestalten“, sagt Anne Schmitt von der Kinderinsel.

Erst bei genauem Hinsehen fallen die Überwachungsgeräte neben dem Bett auf. Denn die Kinder und Jugendlichen, die in der Kinderinsel leben, sind schwerstkrank. „Alle hier haben eine Gemeinsamkeit. Durch ganz unterschiedliche Erkrankungen sind sie auf ständige Beatmung angewiesen“, erklärt die Fachleiterin Pädagogik.

Fast ausschließlich Einzelzimmer

Die Kinderinsel verfügt über zwölf stationäre Betten. Wer hier herkommt, ist nicht Patient, sondern Bewohner, darauf legt das Kinderinselteam wert. „Bis auf wenige Ausnahmen hat jedes Kind ein Einzelzimmer.“ Im Familienzimmer können die Eltern der Bewohner übernachten. Zudem gibt es ein Spielzimmer, ein Wohnzimmer mit Klangbett und einen sogenannten Snoezelenraum, in dem farbige Lichtspiele die Wahrnehmung anregen. Bei gutem Wetter geht es ins Atrium, raus an die frische Luft. „Hier können die Kinder unter freiem Himmel spielen und trotzdem ist jederzeit Sicherheit gegeben“, sagt Anne Schmitt.

Ob sie im Bett liegen, im Rollstuhl sitzen oder eigenständig mobil sind – Pfleger, Pädagogen, Therapeuten und Ärzte ermöglichen den Kindern und Jugendlichen in der Kinderinsel ein Stück Normalität und Teilhabe. „Der Aspekt der Sicherheit ist aber immer gegeben“, betont Anne Schmitt. „Wir haben hier die nötige medizinische Ausstattung und können immer auf die Ressourcen der Kinderklinik nebenan zurückgreifen.“