Siegen. . Das Kriminaldrama in Siegen beginnt trivial und sieht nach polizeilichem Alltagsgeschäft aus: Zwei Kripobeamte wollen am Mittwochmorgen, gegen 10.30 Uhr einen 28-Jährigen auf dem Gelände der Firma Recycling Utsch auf der Marienhütte in Eiserfeld festnehmen. Der wehrt sich, nimmt den beiden Beamten ihre Dienstpistolen vom Typ P 99 ab, schießt und flüchtet in seinem silberfarbenen 7er BMW – nach Hause in die Charlottenstraße.
Nanette Zake will gerade Hund Emma ausführen, als sie ihrem verdächtigen Nachbarn an der Haustür gegenübersteht – zwischen ihnen die Polizisten, die den Täter verfolgt haben. Der 28-Jährige hält ein russisches Sturmgewehr vom Typ Ak 47. „Der hat sofort losgeschossen“, erzählt sie.
Nanette Zake entkommt Richtung Siegerlandhalle, telefoniert mit ihrem Mann. In ihre Wohnung im Obergeschoss, die der des Täters genau gegenüberliegt, kann sie nicht zurückkehren. Eines der Sondereinsatzkommandos der Polizei übernimmt die Wohnungsschlüssel und bezieht dort Position.
Nach und nach übernehmen starke Polizeikräfte das Regiment in der Innenstadt, den Einsatz leitet das Polizeipräsidium Dortmund: Das Areal hinter der Siegerlandhalle wird weiträumig abgesperrt. Streifenwagen sind allgegenwärtig. Dazwischen brausen die dunklen zivilen Limousinen mit Blaulicht von der A-45-Abfahrt Siegen-Süd in die Stadt – Sondereinsatzkommandos aus Bonn und Düsseldorf.
Spezialkräfte mit Hubschraubern eingeflogen
Weitere Spezialkräfte werden mit Hubschraubern eingeflogen und am Leimbachstadion abgesetzt.Auch die anderen Bewohner der Charlottenstraße müssen nun ihre Wohnungen verlassen. Sie finden im nahe gelegenen Lyz vorübergehend ein Dach über dem Kopf und werden von den Maltesern versorgt. Bis zum späten Nachmittag hält sich der Andrang in Grenzen. Zur Feierabendzeit füllt sich die Aula langsam. „Ich will nur ein bisschen ausruhen“, sagt ein Rentner dem Malteser-Einsatzleiter Michael Heimelt. Er sei seit halb Elf auf den Beinen und wolle einfach nur sitzen.
„Mein Auto steht im Parkverbot in der gesperrten Straße“, berichtet eine 25-jährige Herdorferin, die nach dem Citybummel jetzt festsitzt. „Als ich aus dem Haus kam, hieß es nur ‘schnell, schnell, der schießt’, berichtet eine 87-Jährige. „Ich wohne seit 56 Jahren in der Charlottenstraße, aber so etwas habe ich noch nicht erlebt. Ich kann doch gar nicht mehr schnell laufen.“
Mutmaßlicher Täter unter Strom gefährlich
Von Alltag keine Spur mehr in der Innenstadt. Peter-Paul-Rubens-Gymnasium und Adolf-Diesterweg-Grundschule können ihre Schüler nicht einfach nach Hause schicken. Eltern werden informiert; die VWS hält Busse bereit. Aus Seiteneingängen werden die Schüler in Sicherheit gebracht. Schnell machen Gerüchte unter den Schaulustigen die Runde. „Der ist eigentlich ganz nett“, sagt ein junger Mann, der vorgibt, den mutmaßlichen Täter, der auch in Autoschieber-Bande verwickelt sein soll, zu kennen: „Aber wenn er unter Strom steht, wird er echt gefährlich.“
Von Geiselnahme und Maschinengewehr ist zwischenzeitlich die Rede. Polizeisprecher Georg Baum dementiert: „Solche Gerüchte sind schneller um die Welt, als wir sie richtig stellen können.“ Im Mütterzentrum an der Ziegelwerkstraße nimmt das Frauenfrühstück kein Ende. Vier Frauen müssen in dem belagerten Quartier ausharren. „Eine schwangere Frau war noch rechtzeitig aufgebrochen“, berichtet Mitarbeiterin Gisela Hof.
Keine lange Nacht im Tieflader für Polizei
Ganz nah an die Szenerie kommt auch Ralf Strackbein heran. Ob der Siegener Autor hier den Stoff für seinen nächsten Krimi gefunden hat, bleibt abzuwarten. Nur auf Umwegen kommt er nach Hause — „man konnte gar nicht sehen, was überhaupt los ist.“ Ein 20-Tonnen-Tieflader mit Blaulicht und Polizei-Schriftzug fährt vor und lädt zwei Büro-Container ab, die als Einsatzzentrale dienen sollen. Doch es wird keine lange Nacht: Am Abend wird der Täter festgenommen – ohne Blutvergießen.