Siegen. . Die Straßen nahe der Siegerlandhalle befinden sich im Belagerungszustand. So drastisch bezeichnet Angelo Antona (17) die Situation in Siegen. Immer mehr Spezialkräfte der Polizei fahren vor. Später stürmen sie eine Wohnung ohne Blutvergießen und verhaften einen 28-jährigen mutmaßlichen Autoschieber. Bei der Hausdurchsuchung finden sie weitere Waffen.
Die Polizisten nehmen Wohnungen in der Ziegelwerkstraße in Besitz, die zuvor geräumt worden sind. „Hoffentlich leeren die nicht meinen Kühlschrank“, scherzt der 17-jährige Gymnasiast, der seit einer halben Stunde im Regen steht und darauf wartet, wieder in sein Elternhaus zurückkehren zu dürfen, das sich in der Charlottenstraße befindet - eben genau dort, wo sich seit einer Stunde ein bewaffneter 28-Jähriger verschanzt hat.
„In Siegen ist immer etwas los“, übt sich der Schüler in Ironie. Er erinnert die kleine Schar von Jugendlichen, die ihn begleiten, an den Samurai-Kämpfer, der vor zwei Monaten Säbel schwingend nur ein paar Straßen entfernt bundesweit für Aufsehen gesorgt hatte. „Ich muss wohl umziehen, am besten in eine andere Stadt“, sagt er und streicht sich cool seine Haartolle zur Seite.
Angelo Antona ist nicht der einzige, der an diesem Tag Geduld aufbringen muss. Darunter sind auch Schüler, die vor der Kirche St. Peter und Paul zitternd in der Kälte auf Verwandte warten Angst und Neugierde spiegeln sich in den Gesichtern von Senioren wider, die aus den Fenstern gelehnt das Treiben im weiträumig abgesperrten Bereich rund um die Charlottenstraße beobachten.
Polizeikolonnen streifen durch die Straßen
Wagenkolonnen der Polizei streifen durch die Nachbarstraßen, überall Kamerateams, die sich um die Beamten, die etwas sagen dürfen, streiten. Gerüchte machen die Runde. Gerüchte, dass es sich bei dem 28-jährigen Tatverdächtigen um ein Mitglied der Automafia handelt, der in einem Recyclinghof für Pkw die Nerven verloren hat.
Wie Gangstergeschichten aus Chicago
Dieser verhängnisvolle Tag erinnert eher an Gangstergeschichten aus dem Chicago der 1930er Jahre. Mit viel Blei. Aber eins nach dem anderen. Die Geschichte beginnt um 10.30 Uhr in einem Industriegebiet in Siegen-Eiserfeld. Dort wollten zwei Beamte den 28-Jährigen wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz festnehmen. Unerwartet soll der Siegener laut Georg Baum von der Kreispolizeibehörde Siegen-Wittgenstein an seiner Arbeitsstätte eine Waffe gezogen haben.
In die Luft geschossen und Beamte bedroht
"Er hat in die Luft geschossen, die Beamten bedroht und entwaffnet. Danach ist er mit seinem Wagen zu seiner Wohnung in die Innenstadt gefahren. Dort hat er mehrmals mit einem Gewehr aus dem Fenster geschossen.“ Der Tatverdächtige habe sich verbarrikadiert. Bei der Waffe soll es sich um eine Kalaschnikow handeln. Mehr will und darf Baum zu diesem Zeitpunkt nicht sagen. Auch zu den Gerüchten will er sich nicht äußern. Es kommt aber auf Nachfrage auch kein vehementes Nein.
Dass dieser Einsatz in der Siegener Innenstadt kein gewöhnlicher ist, sieht man Georg Baum an. „Die Tatumstände, die schwere Bewaffnung, die verbalen Drohungen, die Schüsse sprechen für sich.“ Bisher sei niemand verletzt worden, die Polizei und die Rettungskräfte seien aber auf alles vorbereitet.
Im Belagerungszustand fühlt sich auch Harald Bott, Geschäftsführer des Porschezentrums an der Leimbachstraße, an dem die Polizei ihr „Lager“ aufgeschlagen hat. Dutzende von Kamerateams und Reportern wärmen sich zwischen teuren Sportwagen auf. Bott nimmt’s gelassen. „War früher beim Katastrophenschutz“, sagt er und gibt Mitarbeitern Anweisung, Polizeibeamte, aber auch einige freundliche Reporter mit Kaffee zu versorgen.
Punkt 11 Uhr war Bott zum ersten Mal als Fels in der Brandung gefragt. Zu diesem Zeitpunkt eilte er nach den ersten Schüssen in der Charlottenstraße zu seinen Mitarbeitern. „Ich habe sie beruhigt.“ Nun hofft er, dass „bald Schluss ist“. Immerhin sei „all das“ nicht gerade geschäftsfördernd.
Vermummte Beamte huschen von Straßenseite zu Straßenseite. Kameras mit Objektiven, die an Kanonenrohre erinnern, klicken pausenlos. Blaulicht spiegelt sich in Regenpfützen. Immer mehr Schaulustige versammeln sich auf Straßenkreuzungen - und warten und warten und warten, dass etwas geschieht.
Szenario vor Siegerland wie im falschen Film
Tarek Ergüven will einfach nur nach Hause. Die Gaffer gehen ihm „gehörig auf die Nerven“. Er hatte Frühschicht bei einer Firma in Hünsborn. Nun will er einfach nur nach Hause, steht vor dem Absperrband und holt tief Luft. „Duschen, etwas essen, aufs Bett legen. Mehr will ich nicht.“ Der Beamte vor ihm zeigt Verständnis, aber er lässt den müden Arbeiter nicht durch. Der dreht sich gekonnt eine Zigarette und zaubert Kringel gen Himmel, auf die mancher andere stolz wäre.
Vor der Siegerlandhalle steht Daniel Lambertz (23). Er schaut etwas ratlos drein. „Was ist hier denn hier los?“, fragt der 23-jährige Student aus Rheinland-Pfalz. Er hat die Ausbildungsmesse besucht und fühlt sich nun im falschen Film. „Die Bundeswehr interessiert mich, nicht ein Verrückter.“
Popmusik dröhnt aus Boxen am Messe-Eingang. Der Student will nur „kurz mal Luft schnappen“ - und dann wieder in die Halle eintauchen. Die „ganze Sache“ lässt ihn kalt. „Ich hoffe nur, dass der Spuk bald vorbei ist. Sonst komme ich nicht rechtzeitig heim.“ Der junge Mann aus Kirchen hat Glück: Um 18.20 Uhr stürmen Spezialkräfte die Wohnung und überwältigen den 28-Jährigen. In der Wohnung finden sie weitere schwere Waffen.