Siegen. Nabil Shehata verlässt die Philharmonie Südwestfalen in Siegen. Im Verhältnis zu seinen Musikern hat es wohl geknirscht.
Nabil Shehata verlässt die Philharmonie Südwestfalen. Vorzeitig. Der Chefdirigent hat seinen im Herbst bis 2027 verlängerten Vertrag gekündigt. Diese Entscheidung sei überraschend gewesen, hieß es aus dem Siegen-Wittgensteiner Kreishaus. Landrat Andreas Müller, Vorstand des Orchester-Trägervereins, äußerte Bedauern: „Ich hätte mich sehr gefreut, wenn wir noch einige Jahre von seinen Fähigkeiten hätten profitieren können.“ Man habe mit Shehata „echte Sternstunden“ erlebt. „Das Publikum hat ihn immer geliebt“.
Unterschiedliche Sichtweisen
Doch zwischen den Zeilen der offiziellen Erklärung ist zu lesen, dass es im Verhältnis von Dirigent und Orchester geknirscht hat. In einer Belegschaftsversammlung sei deutlich geworden, wie unterschiedlich die Sicht auf die „vorhandenen Potenziale zur qualitativen Weiterentwicklung“ ausfalle. Der Chefdirigent wolle künftig in eine künstlerische Richtung gehen, „die aufgrund des damit verbundenen Repertoires“ in Siegen nicht umsetzbar sei. Eingeschränkt ist das kleinste NRW-Landesorchester mit seinen 66 Planstellen, was die Werkauswahl angeht, eingeschränkt aus Shehatas Sicht auch, was „Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten“ angeht. Zu vieles scheint ihm zu provisorisch, zu unsicher, vielleicht auch zu unambitioniert.
Die räumlichen Rahmenbedingungen für die Philharmonie sind mit dem Einzug ins neue Haus der Musik in Siegen optimal. Das Probenhaus, gebaut für rund 17 Mill. Euro, hat einen tollen Probensaal, Stimmzimmer für alle Orchestergruppen, Verwaltungs- und Verweilräume und beste Lage. Er sei „überglücklich“, an diesem Ort arbeiten zu können, so Shehata vor Kurzem noch in einem Interview.
Hohe Krankenstände und tarifliche Steigerungen
Der „Wow-Effekt“, den auch Intendant Michael Nassauer spürte, scheint sich davongeschlichen zu haben. Zu schaffen machen der Philharmonie hohe Krankenstände; dazu kommt die Herausforderung, im laufenden Jahr die tariflichen Steigerungen durch höhere Einnahmen auszugleichen. Gefragt sind hier laut Orchestervorstand vor allem die Zuschussgeber Land und Landschaftsverband. Weitere Erträge sollen u.a. aus der Philharmonie-Stiftung kommen.
Bis zum Saisonende will Shehata seine Verpflichtungen erfüllen. Er werde auch für 2024/25 geplante Projekte begleiten, sollte sich kein Ersatz finden: „Ich bleibe der Philharmonie weiterhin im Herzen verbunden.“ Die fünf Jahre in Hilchenbach/Siegen kosteten durchaus Nerven. Corona war das eine, ein Wasserschaden im Haus der Musik, der den Umzug verzögerte, das andere. Wieder ein anderes Mängel in organisatorischen Abläufen. Es passte nicht mehr. Wie 2018, als Charles Olivieri-Munroe das Orchester verließ, wie 2011, als der beim Publikum so populäre Russell N. Harris nolens volens verabschiedet wurde. Dieses Mal zieht der Dirigent die Reißleine.
Das Kommen und Gehen von Chefdirigenten sei im Grunde ein ganz normaler Vorgang, sagt Gernot Wojnarowicz. Der frühere Intendant der Philharmonie Südwestfalen (2001-2014) ist Orchesterdirektor und Konzertdramaturg am Staatstheater Darmstadt und kennt die Szene gut. Dass ein Dirigent über Jahrzehnte bleibe, sei nicht mehr die Regel. Die Laufzeiten der Verträge seien fast überall kürzer geworden. Es sei zu bedenken, was überhaupt vertraglich vereinbart sei: die Zahl der Projekte, die Präsenz beim Orchester, das Engagement in einer Stadtgesellschaft, die Mitwirkung an organisatorischen Abläufen und weitere Verantwortungsbereiche. Die Anforderungen seien unterschiedlich, so Wojnarowicz. Manche Orchester verzichteten gar auf einen Chefdirigenten und arbeiteten ausschließlich mit Gästen am Pult. Bei den Wiener Philharmonikern sei das traditionell so. „Das hat Vor- und Nachteile.“
Eine Saison ohne Chefdirigent
Die Philharmonie Südwestfalen wird sich auf mindestens eine Saison ohne Chefdirigenten einrichten. „Für mich steht an erster Stelle, dass wir ungebrochen mit hoher Qualität weiter Musik machen wollen“, sagt Intendant Nassauer. Landrat Müller hofft, dass eine Neubesetzung schon zur Spielzeit 2025/26 erfolgen kann. Dann wird das Publikum erneut genau hinhören, ob der oder die Neue auch einen neuen Klang mitbringt. Dieser Eindruck kann täuschen. Jeder Dirigent baue ja auf dem auf, was schon vorhanden sei, könne aber natürlich neue Impulse oder Schwerpunkte setzen, erläutert Wojnarowicz. Ein gedeihliches Miteinander sei immer eine Frage der Chemie untereinander.
Wie für Harris, wie für Olivieri-Munroe wird für Shehata das letzte Konzert als Chefdirigent eines vor imposanter Kulisse sein. Denn auch am Ende seiner finalen Saison steht „Kreuztalklassik“. Im Sommer 2011 würdigte der damalige Landrat Paul Breuer bei diesem Open-Air die Verdienste von Harris, dem es gelang, nach der Hilchenbach-Hagener Orchesterfusionszeit (1997-2002) mit dem Orchester ungemein identitätsstiftend zu wirken. Im Sommer 2018 war es Andreas Müller, der Olivieri-Munroe ein „Farewell“ mit auf den Weg gab. Diese Parallelität ergibt sich aus der Programmplanung. Oft schließt die Spielzeit der Philharmonie Südwestfalen mit dem Open-Air in Kreuztal und damit in einem Ambiente, das für eine Verabschiedung „ein würdiger Rahmen“ ist, wie der dortige Kulturamtsleiter Holger Glasmachers sagt. Mit großer Bühne, einem Publikum in, bei bestem Wetter, vierstelliger Zahl. Dort kann ein Schlussakkord verheißungsvoller Auftakt sein.