Netphen. Yusuf Cimen ist mit seiner Familie nach dem Erdbeben in der Türkei nach Deutschland geflüchtet. Geht es der Familie hier besser?

Dreizehn Monate nach den schweren Erdbeben in Syrien und der Türkei ist die Region von Normalität weit entfernt. Hunderttausende sind obdachlos und arbeitslos. Am 6. Februar 2023 hatten zwei Beben der Stärke 7,7 und 7,6 die Südosttürkei und den Nordwesten Syriens erschüttert. Es folgten etliche Nachbeben. Insgesamt wurden bereits mehr als 50.000 Todesopfer gemeldet.

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Zehn Städte sind betroffen, drei davon stark, Hatay ist eine davon. Yusuf Cimen (40), seine Frau (38) und seine Söhne, Emir Aslan (7) und Hasan Sarp Cimen (3), haben das Erdbeben dort miterlebt. Traumatische Szenen haben sich vor ihren Augen abgespielt: Familienmitglieder sind gestorben, Leichen wurden geborgen, ihr Haus wurde komplett zerstört. Geblieben ist ihnen nichts, außer sie selbst.

Yusuf Cimens zerstörtes Haus in Hatay. 
Yusuf Cimens zerstörtes Haus in Hatay.  © Westfalenpost | Ronja Afflerbach
Nur noch Schutt: Yusuf Cimens Straße in Hatay.
Nur noch Schutt: Yusuf Cimens Straße in Hatay. © Westfalenpost | Ronja Afflerbach

Netphen: Die Lage ein Jahr nach der Katastrophe in der Türkei

Die ersten Stunden nach dem Erdbeben waren ein einziges Chaos. Sporthallen waren überfüllt, etliche Sachspenden wurden in den Moscheen gesammelt und sortiert. Cimens Familie musste ihr Haus verlassen und in einem selbst gebauten Zelt schlafen. Hilfe der staatlichen Organisation „AFAD“ kam erst Ende Februar, sagt Cimen. Die nicht staatliche Organisation „Ahbap“ kam als Erstes nach Hatay. „Ohne deren ehrenamtliche Hilfe wären wir aufgeschmissen gewesen“, erzählt Cimen.

Yusuf Cimen (40) ist seit drei Monaten mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen in Siegen.
Yusuf Cimen (40) ist seit drei Monaten mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen in Siegen. © Westfalenpost | Ronja Afflerbach

In Hatay ist die türkische Regierung noch damit beschäftigt, die Schuttreste des Erdbebens zu beseitigen. Der Wiederaufbau hat teilweise begonnen und ein paar neue Wohnhäuser wurden gebaut. Dennoch leben noch viele Menschen in Zelten und Containern. Die beheizten Container mit Sanitäranlagen sind zu Teilen noch von der Flüchtlingskrise vorhanden oder wurden neu errichtet, sagt Cimen.

Netphen: Cimen baut für Familie eigenes Zelt im Garten, ihr Haus ist zerstört

Der „Türkische Rote Halbmond“ und andere Hilfsorganisationen teilen immer noch Essen in den betroffenen Regionen aus und leisten psychologische Betreuung, besonders an Schulen. Der Wiederaufbau wird wohl noch viele Jahre in Anspruch nehmen. Familie Cimen hat, bevor sie nach Deutschland gekommen ist, in einem 25 qm Flüchtlingszelt gelebt, mit insgesamt 26 Menschen. „Nachts hielt immer jemand Wache.“ Aktuell gibt es in Hatay, einem der Epizentren des Erdbebens, wenig Medikamente und das Wasser sei knapp, sagt Cimen.

Nachts hielt immer jemand Wache, weil es schonmal zu körperlichen Angriffen kam.
Yusuf Cimen, Erdbebenüberlebender

Besonders der Arbeitsmarkt sei durch die Geflüchteten aus Syrien nach dem Erdbeben schlechter geworden. Durch die Flüchtlingskrise seien schon viele Syrier in die Türkei gekommen, damit sind die Löhne geringer und der Kampf um Arbeit härter geworden, sagt Cimen. Für viele sei auch durch die Inflation alles teurer geworden. Das Erdbeben habe diese Entwicklung zusätzlich befeuert, erzählt Cimen.

Netphen: Die Menschen im Erdbebengebiet sind unzufrieden und das schon lange

Versicherungen können sich die meisten türkischen Menschen nicht leisten, denn sie leben an der Mindesteinkommensgrenze und können nur gerade ihre Miete und Lebensmittel bezahlen. Die türkische Regierung verspricht finanzielle Hilfen für die Opfer, wie beispielsweise vergünstigte Kredite für Sanierung oder Neubau der Häuser. Angekommen sei jedoch nichts, sagt Cimen. Die Menschen zeigen ihren Unmut gegenüber der Politik der türkischen Regierung, sagt Cimen. Es fänden immer wieder Demonstrationen in Hatay statt. Zuletzt am Jahrestag. „Leider werden die Demonstrationen aufgelöst, weil die türkische Polizei Wasserwerfer einsetzt.“

Seit sechs Monaten ist Yusuf mit seiner Familie in Deutschland, seit drei Monaten in Siegen. Yusuf Cimen hat in Hatay als Kundeberater gearbeitet. Nach dem Erdbeben hatte er kein Laptop mehr und hat versucht nur noch mit seinem Handy zu arbeiten. Bisher hat die Familie noch eine Aufenthaltsgestattung und können noch keiner Arbeit nachgehen, so Cimen. Die Aufenthaltsgestattung ist kein Aufenthaltstitel, sondern bescheinigt nur den rechtmäßigen Aufenthalt für die Dauer des Asylverfahrens, also bis zur Entscheidung über den Asylantrag.

Netphen: Von Hatay nach Siegen geflüchtet

Die Flucht von Familie Cimen war alles andere als einfach. Immer wieder kam die türkische Polizei in ihr Zelt, in dem er und seine Familie nach dem Erdbeben schlafen mussten. Nachdem er seine Prepaid-Karte getauscht hatte, machte er und seine Familie sich auf den Weg zum Flughafen in Gaziantep. Dort haben sie einen Flughafen-Mitarbeiter bestochen, damit sie nicht auf die sogenannte „Black-Liste“ kommen. Auf dieser Liste stehen diejenigen, die nicht das Land verlassen dürfen, so Cimen. „Eigentlich war es gar nicht mein Plan zu fliehen. Doch das Erdbeben hat die Lage verschlimmert. Ich möchte meiner Familie, vor allem meinen Kindern, eine bessere Zukunft bieten“, sagt Cimen.

Eigentlich war es gar nicht mein Plan zu fliehen. Doch das Erdbeben hat die Lage noch verschlimmert.
Yusuf Cimen, Erdbebenüberlebender

Doch der eigentliche Grund, warum Yusuf in Deutschland ist, ist ein anderer. Er gehört zu den sogenannten Aleviten, eine religiöse Glaubensgemeinschaft, die sich deutlich gegen die Politik der regierenden AKP positioniert. Yusuf Cimen ist zudem Teil der kurdischen ESP-Partei, eine Oppositionspartei in der Türkei. Als politisch Verfolgter wurde er schon von der türkischen Polizei gefoltert. Alles unter dem Radar, also ohne Kameras, damit Yusuf jegliche Möglichkeit, rechtlich gegen die Unterdrückung vorzugehen, genommen wurde, erzählt er. „Einmal wurde ich aus dem Bus gezogen und auf einem Feld zusammengeschlagen. Ich konnte nicht mehr laufen. Mein Anwalt hat mich abgeholt.“

Yusuf Cimen und seine Frau versuchen die Kinder nach einem Nachbeben wieder zu beruhigen.
Yusuf Cimen und seine Frau versuchen die Kinder nach einem Nachbeben wieder zu beruhigen. © Westfalenpost | Ronja Afflerbach

Netphen: Das Trauma der Erdbebennacht bleibt

Aktuell lebt Familie Cimen in einer Flüchtlingswohnung in Unglinghausen. Der 40-Jährige und seine Frau möchten unbedingt Deutsch lernen und arbeiten, so Cimen. Seine Frau ist gelernte Krankenschwester. Sie habe die Erdbebenopfer versorgt und betreut. Der älteste Sohn Emir Aslan, geht mittlerweile in Deutschland zur Schule. Einfach sei das für ihn nicht. „Mein Sohn ist stark traumatisiert“, sagt Yusuf Cimen. Deshalb habe er sich schon um einen Therapieplatz gekümmert, so Cimen.

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Für Familie Cimen, bleibt die Erinnerung, die Bilder, das Trauma der Erdbebennacht.