Siegen. Warum Siegerländer Unternehmen ihre Rolle im Dritten Reich genau anschauen und was sie heute für Demokratie und gegen Hass tun.
Die Industrie- und Handelskammer Siegen feiert ihr 175-Jähriges. Ihre Geschichte beginnt 1849 als „Handelskammer“. Das Jahr 1933 war damals nur wenig weiter von der Gründung entfernt als das Jahr 1945 vom gerade begonnenen Jubiläumsjahr. Es geht um die zwölf Jahre dazwischen. Die Jahre des NS-Regimes stehen nicht nur zeitlich in der Mitte der IHK-Chronik. In den Augen der Kammer strahlen die Folgen bis in die Gegenwart hinein.
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Wie sich Wirtschaft im Dritten Reich mit der NS-Diktatur arrangierte
„Dass immer dann, wenn in einem demokratischen Gemeinwesen Parteien die Axt an Recht und Gesetz legen, strengste Vorsicht geboten ist“ – das ist eine Mahnung, die Hauptgeschäftsführer Klaus Gräbener in die Chronik geschrieben hat. Im vorigen Herbst schon, erzählt er, als sich die Spitzen der Kammer darauf verständigten, zum Jubiläum ihre Geschichte offen zu dokumentieren und nicht mit Floskeln über die Rolle der Siegerländer Wirtschaft im Dritten Reich hinwegzugehen. „Das Thema hat eine Aktualität entwickelt, die wir anfangs nicht erwartet haben.“
Zur Person
Jost Schneider ist Geschäftsführer der Walter Schneider GmbH & Co KG in Weidenau.
Christian F. Kocherscheidt ist geschäftsführender Gesellschafter der Ejot Holding GmbH & Co KG.
Christopher Mennekes ist geschäftsführender Gesellschafter der Mennekes Elektrotechnik GmbH & Co KG in Kirchhundem.
Klaus Gräbener ist Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) Siegen.
Die Chronik geht ins Detail, nennt Profiteure unter den Unternehmen, dokumentiert Zwangsarbeit. Für eine Mitarbeit zu diesem Abschnitt gewonnen hat die Kammer Jens Aspelmeier und Peer Ball vom Aktiven Museum Südwestfalen. Die Arbeitgeber, heißt es einleitend in dem Kapitel, „passten sich schrittweise den neuen Machtverhältnissen an – je nachdem, wie es die neuen Gesetze und Vorschriften aus Berlin erzwangen und wie es die propagandistische Agitation der neuen Machthaber nahelegte“. Zitiert wird der Siegener Politikwissenschaftler Gerhard Hufnagel: „Etliche Unternehmer mussten sich zwangsweise mit dem verbrecherischen Regime eins machen, andere machten es aus Überzeugung.“
Warum das heute wichtig ist
„Der jungen Generation ist das nicht mehr präsent“, sagt Jost Schneider, einer der Vizepräsidenten der Kammer. Sollte es aber, angesichts des Vorrückens rechtspopulistischer und -extremer Strömungen. „Eine Wirtschaft, die stark exportorientiert ist, muss auf Weltoffenheit setzen“, sagt Klaus Gräbener, „das verträgt sich mit Neugierde, aber nicht mit Hass.“ Ohne Zugewanderte, sagt Jost Schneider, wäre nicht nur seine Belegschaft dezimiert – sondern auch der Kundenkreis.
Vizepräsident Christian F. Kocherscheidt stellt dar, wie direkt Hass und Fremdenfeindlichkeit sich auf sein Unternehmen und damit auch dessen Belegschaft auszuwirken drohen. „Wir sind in über 40 Ländern vertreten.“ Da sei solche Außenwirkung ausgesprochen nachteilig. Abgesehen davon: „Wir sind auf Neugier angewiesen. Das ist der Kern, wie man überhaupt zu etwas Neuem kommt.“ Vizepräsident Christopher Mennekes erwähnt die Demos gegen Rechts: „Es ist sehr ermutigend, was man da sieht.“
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Wie Betriebe mit schlechter Stimmung umgehen
Ja, sagt Christian F. Kocherscheidt, es gebe das „große Bauchgrimmen“, Unsicherheit über Ungewissheiten, in den Belegschaften. „Viel informieren“, nennt Jost Schneider als mögliche Strategie, „mit den Themen offen und transparent umgehen.“ Und die Fragen fassbar machen: Im Falle von Ejot, wie E-Mobilität das Unternehmen auf die Gewinnerseite bringt, wie neue Technologien bis hin zur Künstlichen Intelligenz Perspektiven schaffen.
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Sorgen und Nöte aufnehmen, nach Unterstützung suchen – das ist für Jost Schneider ein Weg, seinen Leuten Unsicherheit zu nehmen. Dazu die Empfehlung, den Blick auf das eigene Umfeld zu konzentrieren. „Und sich nicht jedes Problem zueigen zu machen.“ Christopher Mennekes rät, Möglichkeiten zum genauen Blick in die rechte Szene wahrzunehmen: Am Beispiel der zu Beginn „nur“ Euro-kritischen AfD zu lernen, „was passiert, wenn man nicht aufpasst. Dass es rote Linien gibt.“ Und dass es bei aller berechtigten Kritik keine Rechtfertigung gibt, „deswegen Parteien zu wählen, die das Ganze infrage stellen.“
Was Politik besser machen könnte
Vom Heizungsgesetz über das Recycling bis zur E-Mobilität: Der Streit darüber in der Gesellschaft „hat etwas Kulturkämpferisches“, findet Christian F. Kocherscheidt. Dass dahinter große technologische Durchbrüche stehen, „vergessen wir jetzt gerade“. Wohl auch, weil die Anwendung mehr oder weniger unter Zwang verfügt werde, sagt Jost Schneider, angefangen bei der EU und in Berlin längst nicht abgeschlossen: „Das ist ja kein freies Angebot.“
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„Die Leute haben das Gefühl, etwas übergestülpt zu bekommen“, sagt Klaus Gräbener. Da seien aber auch „ein paar Bretter, mit denen man sich die Aussicht vernagelt hat“, gibt Christian F. Kocherscheidt zu bedenken und rät zu einem anderen Blickwinkel: „Wo Risiken sind, sind auch Chancen.“ Christopher Mennekes sieht das ähnlich. Es braucht die „Story“, die den Zusammenhang herstellt: „Den Leuten Perspektiven geben, zeigen, dass es funktionieren kann.“
175 Jahre IHK
Die Chronik „175 Jahre IHK Siegen“ stellen wir in den nächsten Tagen vor.
IHK, Handwerkskammer, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften werden am Mittwoch, 3. April, gemeinsam im Lyz eine Veranstaltung mit dem früheren Bundesumwelt-, -wirtschafts- und -außenminister Sigmar Gabriel ausrichten. Thema werden die aktuellen Gefahren für die Demokratie sein.
Was man aus Siegerländer Wirtschaftsgeschichte auch lernen kann
Der Niedergang des Erzbergbaus und Eisenverhüttung – lange her. Aber warum ist die Krise der 1990er eigentlich fast vergessen? Das Ende der Stahlwerke, die Mahnwachen in Geisweid, als von einst mehr als 5000 Beschäftigten nur noch um die 800 bei den heutigen Edelstahlwerken übrig blieben? Was ist mit der Weltfinanzkrise von 2008/09? „Niemand hätte für möglich gehalten, dass wir heute in der Industrie mehr Beschäftigte haben als vor der Krise“, sagt Klaus Gräbener. „Die Region hat wirklich mehrere Male gut die Kurve gekriegt“, sagt Jost Schneider. Der Wittgensteiner Christian F. Kocherscheidt hat eine Erklärung: „Das Siegerland war zu klein“ – um Unterstützung von außen erwarten zu können. „Das muss man sich selber helfen.“
Wofür Wirtschaft den Staat braucht
A 45 und Uni nennt Klaus Gräbener als die wesentlichen Beiträge zur Entwicklung der Region nach 1945. „Wesentlich ist, dass die Infrastruktur erhalten wird“, sagt Christian F. Kocherscheidt. „Wichtig ist, dass die Kommunikationskanäle da sind“, sagt Jost Schneider – gerade für die kleineren Unternehmen nimmt die Kammer da die Rolle des Sprachrohrs ein. Kocherscheidt, der lange an der Spitze des Vereins Route 57 stand, könnte sich etwas mehr Siegen-Wittgenstein vorstellen: „Die Solidarität innerhalb des Kreises ist äußerst limitiert.“ Das Siegerland habe die A 45, Wittgenstein weder die A 4 noch die Route 57, und dass beim Ausbau der L 719 eine der beiden Verbindungen zwischen den Altkreisen über Jahre gekappt wird, „interessiert hier keinen“. Wobei der Bad Berleburger als Unternehmer sich nicht von Stimmungen leiten lässt: Als es um den Standort eines Zentrallagers für Ejot ging, sahen Gutachter Bad Berleburg dann doch fast gleichauf mit der Alternative direkt an der A 4 in Thüringen.
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