Siegerland. Nicht nur fromm und friedlich: Auch ohne Gewerkschaft treten Arbeiter in Streik, manchmal für Monate, manchmal nur Minuten. Hauptsache ohne SPD.

Arbeiter und Unternehmer im Siegerland: im 19. Jahrhundert ein harmonisches, konfliktloses Miteinander? Von den Arbeitskämpfen im Siegerland in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg kursieren „nur vage oder falsche Vorstellungen“, sagt Historiker Dr. Thomas A. Bartolosch. Es ist die „Statistik des Deutschen Reichs“ des Kaiserlichen Statistischen Amtes („eine Quelle, die erstaunlicherweise bisher kaum oder gar nicht beachtet worden ist“), in der reichsweit bis auf die Ebene der Landkreise dokumentiert ist, wo gestreikt und ausgesperrt wurde.

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Thomas Bartolosch, einst Kreisarchivar in Altenkirchen und nun pensionierter Oberstudienrat im Hochschuldienst, nimmt sich noch einmal die Quellen vor, mit denen er in den 1990er Jahren an der Siegener Universität an einem Projekt für die Deutsche Forschungsgemeinschaft mitgearbeitet hat.

Erstaunlich ist, dass es im Kreis Siegen um 1900 mehr Streiks gab als bisher bekannt oder angenommen.
Dr. Thomas Bartolosch - Historiker

„Erstaunlich ist, dass es im Kreis Siegen um 1900 mehr Streiks gab als bisher bekannt oder angenommen“, schreibt Thomas Bartolosch, „auch Aussperrungen spielten bei Konflikten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern um 1900 bereits eine Rolle.“ Manchmal setzten sich die Arbeiter durch, manchmal erzielten sie Teilerfolge oder scheiterten auch. „Es gab Entlassungen streikender Arbeiter, befristete Aussperrungen oder sonstige Repressalien; mitunter reichte die Androhung von Entlassungen, dass Beschäftigte ihre Arbeit wieder aufnahmen. Einige Arbeiter trauten sich nicht zur Teilnahme an Arbeitsniederlegungen, andere verließen von sich aus einen bestreikten Betrieb und suchten sich andernorts eine andere Arbeit, weil sie sich unbezahlte Arbeitstage nicht leisten konnten, insbesondere wenn sie keinerlei Streikgeld bekamen.“

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Der Kaiser hatte vor allem vor der SPD Angst

Tatsächlich waren wohl nur rund neun Prozent der Metall- und Hüttenarbeiter gewerkschaftlich organisiert, aber bestimmt die Hälfte der Bergleute, folgert Thomas Bartolosch aus den reichsweiten Statistiken. Dabei spielten die „freien Gewerkschaften“ noch eine untergeordnete Rolle, im Gegensatz zu den christlich-nationalen Gewerkschaften, den freien oder liberalen Vereinen, die eher zur religiösen und sozialen Prägung der Siegerländer Arbeiter zu passen schienen. „Außerdem gilt zu bedenken, dass Beschäftigte auch ohne gewerkschaftliche Organisation zu kämpfen imstande waren.“

Bergmann an Sturzrolle: Die Fotografien von Peter Weller sind im Besitz des Siegerländer Heimat- und Geschichtsvereins.
Bergmann an Sturzrolle: Die Fotografien von Peter Weller sind im Besitz des Siegerländer Heimat- und Geschichtsvereins. © Siegerländer Heimat- und Geschichtsverein | Peter Weller

Wichtig für die kaiserlichen Beobachter war, die Rolle der sozialdemokratischen Opposition im Blick zu behalten – und die war klein, was sich bereits an den Wahlergebnissen ablesen ließ: 7,4 Prozent der Stimmen erzielte die SPD, die bis 1890 durch die „Sozialistengesetze“ klein gehalten wurde, im Kreis Siegen bei der Reichstagswahl 1912. Bartolosch zitiert Hubertus Hesel mit seiner Staatsarbeit von 1986 über die Arbeiterbewegung im Kreis Altenkirchen: „Es waren allen Anschein nach wirklich ‚nur‘ die sozialen Verhältnisse, welche die Arbeiter in den Ausstand trieben.“

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Die 33 Streiks

Unter dem Titel „Von Patronenmachern und Packern, Bergleuten und Blechwalzern“ zeichnet Thomas Bartolosch im 2023er Band der „Nassauischen Annalen“ des Vereins für nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung Siegerländer Arbeitskämpfe des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts nach.

1894: Möglicherweise schon im Februar 1894 gab es einen Streik, der aber nicht als solcher registriert wurde: „Euer Hochwohlgeboren beehre ich mich gehorsamst anzuzeigen“, schreibt der Landrat an den Regierungspräsidenten, „daß von der 152 Mann zählenden Belegschaft der Grube Peterszeche bei Burbach im Buchhellertal 92 Mann wegen Betriebseinschränkung entlassen worden sind.“ Von den Entlassenen wohnten 49 im Kreis Siegen, von denen wiederum 14 „sofort“ einen neuen Arbeitsplatz auf der Grube Lohmannsfeld bei Neunkirchen gefunden hätten.

Dr. Thomas Bartolosch, mehrere Jahrzehnte Historiker an der Universität Siegen,  hat die frühe Geschichte der Arbeitskämpfe im Siegerland erforscht.
Dr. Thomas Bartolosch, mehrere Jahrzehnte Historiker an der Universität Siegen, hat die frühe Geschichte der Arbeitskämpfe im Siegerland erforscht. © Sammlung Thomas Bartolosch | Sammlung Thomas Bartolosch

1896: Als „großer Streik“ überliefert ist der Ausstand der Bergarbeiter der Grube Storch und Schöneberg 1896 in Gosenbach. Er begann am Samstag, 21. März, und dauerte bis Montag, 23. März. Bis zu 650 Arbeiter beteiligten sich. Ein Streikrecht gab es nicht, und weil die Arbeiter nicht 14 Tage vorher gekündigt hatten, galten sie als „kontraktbrüchig“. Sie erreichten eine Lohnerhöhung, eine Bezahlung für das Auffüllen der abgebauten Orte und das Zugeständnis, die Gedinge, also die für die Bemessung des Lohns ausschlaggebende Feststellung der abgebauten Mengen, an der Arbeitsstelle und nicht im Büro vorzunehmen. „Die Socialdemokratie war bei der Entstehung und Fortsetzung des Ausstandes nicht betheiligt“, berichtet Landrat Ernst Rudolf Schepp an die Bezirksregierung. Das Unternehmen habe die Forderungen „aus freien Stücken als berechtigt anerkannt“.

Vom 1. bis 7. April 1896 streikten 97 Bergarbeiter der Grube Kunst in Eiserfeld. Sie verlangten höhere Löhne. Nur einen Tag dauerte der Ausstand auf der Grube Brüderbund in Eiserfeld. 120 der 180 Bergleute erstreikten am 18. April 1896 die Wiedereinführung fester Lohntage, also einen verbindlichen Zahltag für ihre. Die geforderte Verkürzung der Schichten von elf auf zehn Stunden wurde aber nur „in Aussicht gestellt“, auf eine Lohnerhöhung verzichteten die Arbeiter am Ende sogar von sich aus.

Am 27. und 28. April 1896 legten 116 Bergleute der Grube Grimberg in Niederdielfen die Arbeit nieder. Sie setzten durch, dass die Wasserableitung auf einer Förderstrecke abgestellt wurde. Nur „zum Theil“, wie es in der kaiserlichen Statistik heißt, wurde eine Verkürzung der Arbeitszeit von zehn auf acht Stunden durchgesetzt.

Vom 2. bis 5. Juni 1896 streikten 200 Bergleute der Grube Pfannenberger Einigkeit bei Neunkirchen erfolglos für höhere Löhne.

Die Grube Storch & Schöneberg in Gosenbach war Schauplatz der ersten Arbeitskämpfe im Siegerland. Die Fotografien von Peter Weller sind im Besitz des Siegerländer Heimat- und Geschichtsvereins.
Die Grube Storch & Schöneberg in Gosenbach war Schauplatz der ersten Arbeitskämpfe im Siegerland. Die Fotografien von Peter Weller sind im Besitz des Siegerländer Heimat- und Geschichtsvereins. © Siegen | Peter Weller

Im Puddel- und Walzwerk von Johann und Karl Weber in Weidenau legten 85 Arbeiter am 19. August 1896 um 22 Uhr die Arbeit nieder, als sie die zugesagte Lohnerhöhung um fünf Prozent nicht in der Lohntüte vorfanden. Am Tag darauf wurde gezahlt.

Insgesamt, rechnet Thomas Bartolosch, haben sich 1270 Arbeiter 1896 im Siegerland an Streiks beteiligt.

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1898: Am 5. Dezember 1898 streikt die komplette Belegschaft der Filzfabrik Seidenmühle Salzmann & Cie in Oberasdorf gegen die Einführung der „Markenkontrolle“, eine Form der Arbeitszeiterfassung, die das Siegener Landratsamt für „vollkommen gerechtfertigt“ hielt, um Verspätungen und zu frühem Feierabend entgegenzuwirken. Am Tag darauf nahmen die rund 50 Arbeiter die Arbeit zwar wieder auf, 21 reichten aber zugleich die Kündigung ein. Die Behörde meinte, dass „die anderen Fabriken sie voraussichtlich nicht aufnehmen werden“ und dass die Arbeiter „sich mit der Zeit wohl an die auch in vielen anderen Fabriken eingeführte Kontrolle gewöhnen“.

1902: Von 1899 bis 1906 gab es im Kreis Siegen elf Streiks. Darunter war der erste „Massenstreik“ von 1050 Bergarbeitern der Grube Storch und Schöneberg in Gosenbach. Sie gingen vom 6. bis 12. Mai 1902 in den Ausstand gegen eine Verkürzung ihrer Arbeitszeit – ohne Erfolg. 71 Blechwalzer in Weidenau (Siegener Eisenindustrie, vormals Hesse und Schulde) wollten am 8. und 9. Januar 1902 die Kürzung von Akkordsätzen abwehren: 20 Prozent weniger für die Grobblechwalzer, fünf Prozent weniger für die Feinblechwalzer.

1901/1902: 1901 legen Bergleute der Gruben Altenberg bei Müsen und Heinrichssegen bei Littfeld die Arbeit nieder, weil ihnen wochenlang kein Lohn ausgezahlt wurde. Dem englischen Eigentümer, der Niederfischbacher Berg- und Hüttenwerksgesellschaft, war das Geld ausgegangen. Die Löhne wurden nachgezahlt, zum Jahresende ging die Firma in Konkurs. Erneut kam es wegen ausbleibender Lohnzahlungen zu Arbeitsniederlegungen in der 180-köpfigen Belegschaft, bis der Konkursverwalter die Auszahlung zusicherte. Ende 1902 wurden die Gruben zwangsversteigert, Krupp wurde neuer Eigentümer.

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1903: In der Dynamitfabrik Dr. Rahnsen & Co in Anzhausen streikten 1903 16 Patronenmacher und Packer sechs Tage lang für höhere Löhne: statt 3,60 Mark künftig 4,50 Mark je Kiste. Der Streik führte dazu, dass das Schießmaterial auf den Gruben knapp wurde. Die Fabrikverwaltung versprach eine „vorläufige Erhöhung“ der Löhne. Am 9. März nahmen die Patronenmacher die Arbeit wieder auf. Am 11. März wurde der Betrieb „behufs Vornahme von Reparaturen“ eingestellt, Arbeiter wurden entlassen. „Es bedarf sicher wenig Phantasie sich vorzustellen, welche Arbeiter weiter beschäftigt wurden“, merkt Thomas Bartolosch an.

Die Rolandshütte in Weidenau – bedeutendes Hüttenwerk mit Kokshochöfen.
Die Rolandshütte in Weidenau – bedeutendes Hüttenwerk mit Kokshochöfen. © Siegen

1905: Fünf von acht Malern eines Handwerksbetriebs in Siegen legten am 22. Mai 1905 ohne Erfolg die Arbeit für höheren Lohn nieder. 14 Tage später reichen sie, „unter Führung des bekannten Sozialdemoraten Soose“, wie der Landrat berichtet, die Kündigung ein. Dem Meister habe der SPD.-Mann gedroht, „dass er keine Arbeiter wieder bekommen werde“.

1905: Am 29. November 1905 traten 33 Bauarbeiter an der Kleinbahnstrecke Weidenau-Deuz in den Streik. Sie verlangten von der Wittener Firma einen Pfennig mehr Stundenlohn, 36 statt 35 Pfennige. Die Forderung wurde erfüllt, nach 45 Minuten war der Streik um 13.45 Uhr vorbei. Es „dürfte es sich um einen der kürzesten Ausstände in der Geschichte des Streiks überhaupt gehandelt haben“, vermutet Thomas Bartolosch.

1906 gibt es vom 11. bis 15. Januar erneut einen viertägigen Streik bei der Siegener Eisenindustrie in Weidenau, 25 Wälzer und Schmelzer verlangen mehr Lohn. Fünf Stunden dauert am 26. Juni 1906 der Streik von 70 Arbeitern des Hochofenwerks Rolandshütte in Weidenau. Sie fordern nicht nur mehr Geld, sondern auch eine Kochgelegenheit „mit freier Kohlenbenutzung“. Am 25. April 1906 streiken 28 Arbeiter der Stahlblechfabrik der Weidenauer Bremer Hütte für weniger Überstunden. Sie arbeiten fortan nicht mehr in der Nacht von Samstag auf Sonntag bis Mitternacht, sondern von Sonntag auf Montag bis 2 oder 3 Uhr morgens.

In drei Walzwerken in Weidenau streiken vom 13. bis 16. August 1906 64 Arbeiter vergeblich gegen die Kürzung von Akkordsätzen.

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Schließlich kommt es 1906 erstmals zu einem branchenweiten Streik, dem Maurerstreik, der 21 Betriebe im Kreis Siegen betrifft: Fünf Bauunternehmen in Buschhütten, Kreuztal und Ferndorf, fünf Baugeschäfte in Siegen, drei Betriebe in Dreis-Tiefenbach und Niedersetzen sowie acht Unternehmen in Eiserfeld, Niederschelden und Gosenbach werden zwischen 47 und 54 Tagen bestreikt. 319 von 815 Maurern beteiligen sich daran. Erstmals werden auch andere Arbeiter ausgesperrt. Die Einigung auf eine Verkürzung der täglichen Arbeitszeit auf zehn Stunden hielt nicht lange, einen Schiedsspruch (10,5 Stunden) akzeptierten die Arbeitgeber nicht, nach dem Bruch des Tarifvertrages wurde wieder elf Stunden am Tag gearbeitet. Thomas Bartolosch: „Während zunächst allen organisierten Gewerkschaftern gekündigt worden war, wurde die Kündigung derjenigen Arbeiter alsbald zurückgenommen, die in der lokalen christlichen Gewerkschaft Mitglied waren.“ Die Siegener Zeitung kommentiert: „Es dürfte den gesamten Arbeitern des Siegerlandes zu raten sein, sich einer Organisation anzuschließen, die aufrichtig den Frieden mit dem Arbeitgeber wünscht.“

1907 bis 1914: Im März 1907 gab es einen zweiwöchigen Maler- und Anstreicherstreik um tarifgerechte Entlohnung. Im November 1907 streikten Wälzer und Schmelzer der Bremer Hütte in Weidenau gegen eine 15-prozentige Lohnkürzung.

Im Dezember 1907 gab es eine „Arbeiterversammlung“ bei den Geisweider Eisenwerken, die allerdings - wie viele folgende Streiks - keinen Eingang mehr in die kaiserliche Statistik fanden, die nun nur noch großflächig geführt wird. Detlef Wetzel und Hartwig Durt, frühere Bevollmächtigte der IG Metall in Siegen (Durt von 2004 bis 2016, Wetzel von 1997 bis 2004), berichten darüber in ihrer Gewerkschaftsgeschichte: Gerichtlich sei den Arbeitern zwar zugestanden worden, dass es sich bei der Werkstattbesprechung nicht um eine unerlaubte öffentliche Versammlung gehandelt habe, die verhängten Strafen seien aber nicht zurückgenommen worden.

Wetzel und Durt berichten außerdem über Streiks bei einer Siegener Herdfabrik („ergebnislos abgebrochen, da die Firma genügend Arbeitswillige gefunden hatte, um den Streik zu unterlaufen“), bei der Würgendorfer Dynamitfabrik, bei der Rolandshütte in Weidenau, über einen zweimonatigen Streik des Baugewerbes, bei Peipers in Siegen, der Grube Stahlberg in Müsen und der Siegener Verzinkerei, insgesamt noch einmal 15 in den eben gar nicht so harmonischen Jahren von 1907 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914.

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