Siegen. Mit freier Presse war es früher auch in Siegen nicht weit her. Was Preußen nicht passte, durfte nicht erscheinen. Die „Karnevals-Zeitung“ etwa.
Die Wurzeln des Pressewesens, wie wir es heute kennen, sind in den zwei Jahrzehnten vor der deutschen Revolution 1848/49 zu finden. Bis etwa 1830 waren „Zeitungs-Berichte“ fast ausschließlich die von staatlichen Behörden eingeforderten Lageberichte, die Bürgermeister und Landräte des hiesigen Raums an die Bezirksregierung in Arnsberg abzuliefern hatten. Über dieses Medium waren die preußischen Behörden über all das informiert, was sich vor Ort ereignete und für das Regierungshandeln von Bedeutung war.
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Alle privaten, an ein größeres Publikum gerichteten „Press-Erzeugnisse“ unterlagen der staatlichen Zensur: Neben Handzetteln und Büchern waren das die regelmäßig erscheinenden „Intelligenz“- oder sonstigen „Blätter“. In Siegen gab der Drucker und Verleger Vorländer seit 1823 das „Siegerländer Intelligenz-Blatt“ heraus, das den Behörden zugleich als Amtliches Mitteilungsblatt diente. Das anfangs vierseitige Blättchen erschien jeden Freitag. Bevor es in Druck ging, musste es dem staatlichen Zensor vorgelegt werden.
Siegen: Zensur im 19. Jahrhundert – bloß kein Wort gegen die preußische Politik
So kam es, dass der Verleger mindestens einmal die Woche von seiner Druckerei am Markt den Siegberg hinaufging und die letzte Korrekturfahne des Blattes dem im Westflügel des Oberen Schlosses residierenden Landrat Wolfgang Friedrich von Schenck zur Zensur vorlegte. Entscheidend für das Plazet des Zensors: Die Druckerzeugnisse durften sich nicht gegen die Politik des preußischen Staates richten. Das war beim Verleger Vorländer und seinen vermutlich bereits damals gegen Zeilenhonorar schreibenden ersten Redakteuren auch nicht der Fall – entweder aus persönlicher Überzeugung oder aus vorauseilendem Gehorsam.
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Soweit es politisch unverdächtige lokale und regionale Themen betraf, wurde im „Siegerländer Intelligenz-Blatt“ gelegentlich auch heftig gestritten: um die richtigen Lösungskonzepte für das krisengeschüttelte Hütten- und Hammergewerbe, aber auch über die zeitgemäße Weiterentwicklung des regionalen Schul- und Bildungswesens. Dies geschah im „Eingesandt“, also den nur selten namentlich, meist mit Namenskürzel oder anonym veröffentlichten Leserbriefen.
Siegen: Ein Buchhändler gründet das „Bürgerblatt für Stadt und Land“
1834 ließ sich ein knapp 30-jähriger Buchhändler neu in Siegen nieder. Wilhelm Friedrich war schon weit herumgekommen, hatte als Gehilfe in Frankfurt/M., Leipzig und Elberfeld gearbeitet und auf diese Weise zahlreiche Kontakte geknüpft. 1835 eröffnete er die Friedrich’sche Verlagsbuchhandlung in der Löhrstraße, wenige Monate später bezog er ein Haus oberhalb des Marktes und erweiterte sein Geschäft um eine Leihbibliothek. Nachdem er im Jahr zuvor mit dem Buchdrucker Ferdinand Schulz, seinem Schwiegersohn, die Verlagsbuchhandlung „Schulz & Friedrich“ eingerichtet hatte, gründete er in Siegen die Druckerei Friedrich und ließ dort zum 31. Januar 1843 die erste Ausgabe des „Bürgerblatts für Stadt und Land“ drucken.
Schon vor der Krönung Friedrich Wilhelm IV. 1840 waren in Preußen einige Reformen eingeleitet worden. Im Bürgertum der Städte Rheinlands und Westfalens keimte die Hoffnung auf, dass der König nun endlich sein Verfassungsversprechen einlösen würde. Der Lederhändler Gustav Mallinckrodt, der seit zwanzig Jahren eine Gerberei in Krombach betrieb, war mittlerweile nach Köln gezogen und wickelte von dort aus einen Teil des Häutehandels für das Gerbereiwesen des Siegerlands ab. „Die Siegener fangen nachgerade an“, schrieb er im Juni 1845 an seinen Freund Gustav Mevissen, „auch etwas teilnehmender zu werden, als sie bisher waren“.
Anfänge des Pressewesens in Siegen: „Bürgerblatt“ bringt Zensoren gegen sich auf
Mallinckrodt und Mevissen gehörten zu der Gruppe von Unternehmern, die 1842 in Köln die „Rheinische Zeitung“ gegründet hatten, eines der ersten und einflussreichsten Oppositionsblätter in Preußen. Die Leitung der Redaktion hatten sie dem 23 Jahre alten Journalisten Karl Marx übertragen. Das in Siegen erscheinende „Bürgerblatt“ war etwas moderater, gehörte aber auch zum Kreis der untereinander gut vernetzten oppositionellen Zeitungen des Vormärz. Wenige Tage, bevor die Zeitung in Köln zum 1. April 1843 durch die preußische Zensur verboten wurde, war im „Bürgerblatt“ zu lesen, dass die „Rheinische Zeitung“ ihrer Leserschaft empfehle, stattdessen die bei Friedrich in Siegen gedruckte Zeitung zu lesen.
Auch das Friedrich‘sche „Bürgerblatt“ wurde zensiert. Wohl weil der mittlerweile 70-jährige Landrat damit überfordert gewesen wäre, war anfangs Johann Friedrich Bender, der Superintendent des evangelischen Kirchenkreises, als Zensor eingesetzt worden. Bender gab die offenbar immer heikler werdende Aufgabe im Februar 1845 ab an Eduard Suffrian, den Direktor der Höheren Bürgerschule (heute: Löhrtor-Gymnasium). Vier Monate später übernahm der unmittelbar der Regierung in Arnsberg unterstellte Bezirkszensor Haxthausen die Kontrolle über das „Bürgerblatt“. Auf seine Empfehlung hin wurde die Friedrich’sche Zeitung im Herbst 1845 ein erstes Mal verboten. Unter dem Titel „Deutsches Bürgerblatt“ gab Friedrich sie im April 1846 erneut heraus, bevor sie zum Jahresende 1847 endgültig eingestellt wurde.
Siegen: Söhne aus gutem Hause gehen mit „Karnevals-Zeitung“ neue Wege
Auch der Verleger des „Siegerländer Intelligenz-Blatts“ hatte wenigstens einmal Ärger mit der preußischen Zensur. Anfang März 1847 flatterte dem neuen Landrat Arnold Ludwig von Holtzbrinck ein anderes „Press-Produkt“ des Hauses auf den Tisch: eine neue Ausgabe der „Karnevals-Zeitung“. Das kleinformatige, acht bis zwölfseitige Blättchen war das Sprachrohr eines Grüppchens junger Burschen, die im Jahr zuvor Gefallen an der Gründung einer kleinen Karnevalsgesellschaft gefunden hatten. Sie stammten aus den angesehensten Familien der Stadt (wie Achenbach, Börner, Oechelhäuser), hatten höhere Bildung genossen (Siegener Real- oder auswärtiges Gymnasium) und waren voller jugendlichem Überschwang.
In ihrer „Karnevals-Zeitung“ spießten sie mit Vorliebe aktuelle städtische Ereignisse auf, und zwar in humorvoller, manchmal knapp an der Zensurgrenze navigierender Weise. Aus der Stadt Siegen wurde „Purzelpichelhausen“, wo stets „drei Schnüffler auf der Frankfurter Chaussee vigilieren“ und wo „kürzlich einem durchreisenden Engländer seine Töchter abgenommen“ worden seien. Solche und ähnliche Vorfälle passierten in der Stadt unterm Krönchen: „beim Barte des Ministers Purzpichler sei’s geschworen“ – womit wohl der Bürgermeister gemeint war. Das Blättchen war voller kryptischer und spöttischer Anspielungen und genoss ein gewisses Maß an sprichwörtlicher Narrenfreiheit.
Aufreger 1847: Wie konnte aus „Fischgeräthe“ bloß „Hirschgeweih“ werden?
Damit war es im März 1847 vorbei. Landrat Holtzbrinck bestellte den Verleger des „Intelligenz-Blatts“ in sein Büro im Oberen Schloss ein. Wie war es möglich, dass sich das Wort „Fischgeräthe“ – so hatte es noch in der ihm zur Zensur vorgelegten Druckfahne gestanden – in einem Teil der Druckausgabe der „Karnevals-Zeitung“ in das Wort „Hirschgeweih“ hatte verwandeln können? Superintendent Bender hatte den Landrat auf diesen Begriff hingewiesen, der in bestimmten Zusammenhängen aus moralischer Sicht höchst anzüglich war. Da er zusammen mit „einer bekannten Federfehde“ Erwähnung fand, konnte er noch dazu auf namentlich bekannte Personen bezogen werden. Es gab einen öffentlichen Eklat und vorerst keine „Karnevals-Zeitung“ mehr.
Das ist eine von vielen Episoden aus Siegens Geschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die im neuen Buch „Zeitspuren in Siegerland und Wittgenstein“ von Dieter Pfau und Elisabeth Strautz nachzulesen sind. Eine weitere ereignete sich im Sommer 1829: Ein wandernder Schausteller ließ einen aus dem philippinischen Raum stammenden Sklaven in der Stadt auftreten. Nachdem sich herausstellt, dass es sich nicht um einen „Wilden“ handelte, sondern um einen „getauften Christen“, verlangte die „Vereinigung der edlen Frauen und Jungfrauen“ – ein von Charlotte Dresler gegründeter erster Siegener Frauenverein – seine sofortige Freilassung und sorgte mit dafür, dass Jacob Cannaba in seine Heimat zurückreisen konnte.
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