Siegen. Vom Start in Netphen bis zum Schlussapplaus auf dem Scheinerplatz: Das war der Protest-Freitag der Landwirte und Spediteure.
Dass Manfred Spies an diesem Freitagmorgen mit Lebensgefährtin Monika Schmid, Trecker und Protest-Transparent gegen die „Ampel“ in der Industriestraße in Netphen steht, ist nicht selbstverständlich: Vor sechseinhalb Jahren, in einer Sonntagnacht im April 2017, war sein Hof in der Jungen Ecke in Netphen abgebrannt. Längst ist der Betrieb wieder aufgebaut – nun sieht er seine Existenz erneut bedroht: durch das, was ihm und seinen Berufskollegen zugemutet werden soll. Agrardiesel ist da nur ein Schlagwort. „Wir sind nicht nur Landwirte“, sagt Manfred Spies, der den Netphener Teil des Konvois nach Siegen organisiert, „wir rufen alle Bürger zum Protest auf.“
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Der Start in der Netphener Industriestraße
In der Industriestraße winken Sebastian Reh, Chef der Feuerwehr und stellvertretender Leiter der Ordnungsbehörde in Netphen, und sein Team die Trecker durch. Die schiere Menge macht den Plan zunichte, den Konvoi hier zu sammeln. Traktoren und Lkw werden durchgeleitet bis zur Einmündung in die Siegstraße in Dreis-Tiefenbach. Dort an der Ampel macht die Spitze halt. Und die Schlange wird immer länger. Sebastian Reh hält den Linienbus an, warnt den Fahrer: Gleich wird es eng. Er soll noch so gerade durchgekommen sein, hört man später. In Dreis-Tiefenbach macht die Polizei die Industriestraße dicht, nach Netphen ist die Durchfahrt nun nicht mehr möglich. Und Busse werden bald auch nicht mehr fahren.
Ein Video macht die Runde. Die Treckerkolonne, die sich in Erndtebrück gesammelt hat, nähert sich auf der B 62 der Kronprinzeneiche. 225 sollen es sein, die sich hier gleich auch noch einschleusen. Mittlerweile hat die Polizei in Netphen die Verkehrslenkung übernommen: Ein Teil-Konvoi hat sich verfahren und wird von Dreis-Tiefenbach zum Netphener Kreisel zurückgeschickt. Sebastian Reh alarmiert die Dreis-Tiefenbacher Löscheinheit. Das Feuerwehrgerätehaus wird nun besetzt – gleich, wenn der Konvoi erst einmal rollt, haben die freiwilligen Feuerwehrleute im Notfall keine Chance mehr, zum Löschfahrzeug zu gelangen.
Es geht auf 10 Uhr zu, der Netphener Konvoi startet ziemlich pünktlich. Genau 362 Fahrzeuge sind es, die sich allein von hier nach Siegen in Bewegung setzen, die letzten verlassen die Warteposition um 11.02 Uhr. Da ist die Spitze der inzwischen insgesamt über 1000 Fahrzeuge schon längst am Kölner Tor in Siegen durchgefahren, unter mutiger Missachtung des polizeilichen Hupverbots. Ursprünglich angemeldet waren vor ein paar Tagen gerade einmal 100.
Im Hupkonzert zur Siegerlandhalle
Das Hupkonzert wird langsam lauter, der Konvoi aus Treckern und Trucks nähert sich der Siegerlandhalle. Noch stehen nicht einmal eine Handvoll Autos auf dem Parkplatz, zu dem gerade Hunderte Fahrzeuge unterwegs sind. Es ist die prominenteste Sammelstelle für die Teilnehmenden der Demonstration.
Die Ordnungshüter hätten sich entsprechend vorbereitet. Zu Verkehrsbehinderungen werde es kommen, sagt Polizeisprecher Stefan Pusch. Das vorrangige Ziel sei es, Wege für Einsatzfahrzeuge freizuhalten. In einer Verbindungsgruppe habe sich die Polizeit mit Feuerwehr und Rettungsdiensten abgestimmt. HTS-Abfahrten wurden gesperrt, um Routen Richtung Innenstadt für Notfälle offen zu haben. Sonstige Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer müssten Geduld mitbringen. Auf die Demo hatten die Behörden im Vorfeld extra hingewiesen und gebeten, Fahrten in und durch die betroffenen Bereiche zu vermeiden.
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Der erste Trecker rollt auf den Parkplatz, dann reißt der Strom nicht ab. Die große Fläche füllt sich in erstaunlicher Geschwindigkeit. Wie in einer Choreografie steuern die sperrigen Fahrzeuge die Stellplätze an, alles läuft geordnet und koordiniert. Bisher sei alles gut gelaufen, sagt Björn Kirchhoff vom Orgateam der Demo. Der Landwirt aus Plettenberg ist einer der ersten, die ihr Gefährt an der Siegerlandhalle abstellen. Entlang ihres Weges hätten sie sehr viel „Zuspruch vom Straßenrand“ erhalten, „wir haben viele Daumen nach oben gesehen“.
Zwischen den Fahrzeugreihen sammeln sich Grüppchen. Die Landwirte und ihre Unterstützerinnen und Unterstützer sind sauer, klar, sonst wären sie ja nicht hier. Doch die Stimmung ist friedlich und freundschaftlich. Viele junge und sehr junge Leute sind dabei. Die Nummernschilder zeigen, was für weite Kreise der Aufruf zu der Protestveranstaltung an diesem Freitag gezogen hat: Viele Kennzeichen aus Siegen und Olpe, aber auch aus Gummersbach, Siegburg, dem Hochsauerlandkreis und dem Märkischen Kreis. Aus dem Kreis Altenkirchen und dem Lahn-Dill-Kreis sind ebenfalls einige dabei. Der Atmosphäre nach könnte es fast ein Trecker-Treffen sein – wenn da nicht der Hup-Lärmpegel und die Protestschilder wären. „Niemand soll es je vergessen, Bauern sorgen für das Essen“, ist da zu lesen, „Nachhaltig & regional? Nur MIT uns!“ oder „No farm, no food, no future“. Vieles richtet sich auch – teilweise sehr direkt – gegen die Regierungskoalition. Die Ampel, das wird unmissverständlich klar, stößt hier nicht auf viele Sympathien.
Zuerst kommen die Hünsborner in Siegen an
Nach knapp einer Stunde ist der Tross vom Sammelplatz in Hünsborn durch. Gegen 10.30 Uhr hatten die ersten Traktoren und Lkw Reichwalds Ecke passiert - und dann wollte es schier nicht aufhören. Gegen 11.30 Uhr dann lichtete sich das Teilnehmerfeld der Landwirte und Fuhrunternehmen; kurze Verschnaufpause. Denn der Konvoi aus Netphen, 360 Fahrzeuge, etwa fünf Kilometer lang, stand da bereits vor den Toren der Siegener Innenstadt, am Kaisergarten.
Das Grollen der schweren Diesel, die überaus leistungsfähigen Signalhörner der Lkw, der Geruch von Diesel aus aberhunderten Fahrzeugen - spätestens die Sandstraße war, was Optik und Akustik angeht, vermutlich die Bühne, die sich die Organisatoren der Demonstration erhofft hatten. Zahlreiche Schaulustige standen in der belebten Innenstadt an den Straßenrändern, filmten, fotografierten, ja feierten den Zug und drückten mit zahlreichen erhobenen Daumen ihre Zustimmung zu den Forderungen der Bauern und Spediteure, ihrer Unzufriedenheit mit den Sparmaßnahmen der Bundesregierung aus.
Wie der Verkehr in Siegen beinahe zusammenbricht
Das angekündigte Verkehrschaos war längst da, die Behinderungen auf den Straßen in Siegen, Weidenau, Geisweid, Netphen und Dreis-Tiefenbach massiv. Der Parkplatz der Siegerlandhalle: Viel zu klein, um die vielen großen Fahrzeuge aufzunehmen. Die Polizei hatte frühzeitig die Zahl der Einsatzkräfte deutlich erhöht, begleitete die Anfahrt und leitete die Traktoren und Lkw zum Ausweich-Treffpunkt an der Leimbachstraße um. Die A 45-Anschlussstelle Siegen-Süd wurde daher komplett gesperrt, ebenso Hindenburg- und Berliner Straße. Die Verkehrsbetriebe mussten ihren Linienverkehr weitgehend einstellen. Der einsame Bus am ZOB fährt nirgendwohin. „Frieden auf der Welt wünscht Ihre Wern Group“, steht da, wo sonst Liniennummer und Fahrtziel angezeigt werden.
Bauern-Demo in Siegen: Hier gibt es die Bilder
Oben im Leimbachtal kommt es dann auch zu dem einzigen Zwischenfall, bei dem ein Polizeibeamter verletzt und ein alkoholisierter Treckerfahrer festgenommen wird und der Eingang in das durchweg positive Fazit von Polizeiführer Thomas Fürst findet: „Die gute Kooperation mit der Versammlungsleitung und eine enge Zusammenarbeit mit Rettungsdienst und Feuerwehr waren für den Verlauf des Tages elementar wichtig“, wird es am Ende heißen.
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Finale auf dem Scheinerplatz
Unten auf dem Scheinerplatz spricht nach Kreislandwirtin Katharina Treude und Spediteur Uwe Steiner Harald Görnig, Hauptgeschäftsführer der Kreishandwerkerschaft: „Es muss Schluss sein mit dem Geampel“, sagt er, ist aber auch skeptisch, ob ein „Trainerwechsel“ hilft. Dr. Gregor Kaiser, Grünen-Landtagsabgeordneter aus Olpe, und SPD-Bundestagsabgeordnete Luiza Licina-Bode müssen gegen ein Pfeifkonzert anreden. Er werde sich für die Landwirte einsetzen, sagt Gregor Kaiser – „das bringt doch nichts“, ruft jemand zurück. „Am Ende bin ich auch Ihr Sprachrohr“, beteuert Luiza Licina-Bode (SPD). „Bitte nicht“, tönt es vom Platz herauf zur Bühne, wo danach auch Paul Ziemiak, Generalsekretär der NRW-CDU spricht.
Applaus auf dem Scheinerplatz am Ende der Kundgebung, die wegen der sich so lange hinziehenden Anreisen viel später beginnt, bekommt Julia Afflerbach. Die Landwirtin aus Erndtebrück hatte die Demo initiiert und angemeldet – und mit Unterstützung von Bäckern, Metzgern, Milch- und Gemüsehändlern dafür gesorgt, dass es Äpfel und Kuchen, Wurst und Brötchen und Joghurt für alle gab. „Ich muss demonstrieren, um euch zu ernähren“, hatte Albert Schmitz vom Landwirte-Verein LSV vorher gesagt. Was schließlich zu beweisen war.
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