Siegen. Vor 85 Jahren brannte die Siegener Synagoge. Beim Gedenken fallen deutliche Worte, auch zum immer offener in Deutschland gezeigten Antisemitismus

85 Jahre, nachdem auch in Siegen die Synagoge brannte, haben jüdische Menschen wieder Angst in Deutschland. Nicht mehr vor den nationalsozialistischen Regime und seinen braunen Horden, sondern religiösem und neofaschistischem Antisemitismus. Das Gedenken am Platz der Synagoge in Siegen anlässlich der Reichspogromnacht von 1938 stand in diesem Jahr unter dem Eindruck der brutalen Terrorangriffe der Hamas auf Israel am 7. Oktober. Und dessen Folgen, auch in Deutschland.

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Landrat Andreas Müller fand vor mehreren hundert Menschen deutliche Worte in Bezug auf die propalästinensischen Demonstrationen in Siegen, wie die vom vergangenen Sonntag. Das sei schwer auszuhalten – und gleichwohl vom Grundgesetz geschützt; etwas, das es 1938, unter der Naziherrschaft, nicht gab. Menschenrechte zählten damals nichts, zumindest die jüdischer Menschen nicht, sie wurden „mit deutscher Präzision“ verfolgt, dem mit tausenden Gesetzen ein „legaler“ Anstrich verpasst. Eine Demo zu verbieten, nur weil einem der Inhalt nicht passt: Das geht im Rechtsstaat nicht. Es sei legitim, auf die katastrophale humanitäre Situation in Gaza aufmerksam zu machen. „Was aber nicht geht: Zu Hass und Gewalt aufstachen, das Existenzrecht Israels verneinen, Terror propagieren.“

Antisemitische Schmierereien an Siegener Gymnasium: „Widerliche Terrorpropaganda“

Die Kreispolizeibehörde, deren Chef Müller ist, hatte deshalb für Sonntag „massive Auflagen“ erlassen; eine lange Liste von Verboten sei konsequent überwacht und umgehend geahndet worden – drei Verstöße habe es gegeben, die Einsatzkräfte seien sofort eingeschritten. Man werde das weiter aufarbeiten und mit allen Mitteln ahnden – genauso wie die antisemitischen Schmierereien am Evau. Wer solch „widerliche Terrorpropaganda“ wie am evangelischen Gymnasium hinterlässt, „stellt sich außerhalb unserer Gesellschaft. Das ist keine Meinung, das ist purer Hass.“ Es sei gerade heute Aufgabe des Staates, der Zivilgesellschaft, jedes einzelnen Menschen, sich dem entgegenzustellen; an der Seite Israels zu stehen, das um seine Existenz kämpfe und an der Seite der Jüdinnen und Juden in Deutschland, die heute wieder um ihre Sicherheit fürchten müssen. Müller: „Nie wieder ist jetzt.“

Mehrere hundert Menschen nehmen am Gedenken am Platz der Synagoge in Siegen anlässlich der Pogromnacht 1938 teil.
Mehrere hundert Menschen nehmen am Gedenken am Platz der Synagoge in Siegen anlässlich der Pogromnacht 1938 teil. © WP | Hendrik Schulz

Deutliche Worte fand auch Raimar Leng, evangelischer Vorsitzender der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (CJZ) angesichts des Antisemitismus, den es, wie Andreas Müller angemerkt hatte, wohl immer gegeben hatte und der nun immer offener gezeigt wird. Die Nazis, so Leng, konnten nahezu ungehindert agieren, weil sie in ihrer Anfangszeit keinen nachhaltigen Widerspruch erfuhren. „Deshalb hatten sie freie Bahn, auch in der Mitte der Gesellschaft.“ Heute, so der Pastor weiter, greife Menschenverachtung immer weiter um sich; Zitate von Nazigrößen werden ungestraft in politischen Reden genannt, bis in den Bundestag. „Scheinheilige Solidarisierung mit Israel“ werde dazu missbraucht, pauschale Hetze gegen zugewanderte Muslime zu generieren. Und man erwarte aber auch von muslimischer Seite, „dass sie sich unmissverständlich von jedem islamistischen Antisemitismus distanzieren“. Wer in einem demokratischen Gesellschaftsgefüge diese Regeln nicht einhalte, „ist bei uns fehl am Platze“.

Nachfahrin Siegener Jüdin sagt ab: „Würde mich in Deutschland zur Zeit nicht sicher fühlen“

Eigentlich hätte am Donnerstag Susan Caine in Siegen sprechen sollen; eine Nachfahrin der Siegener Familie Stern, die zum großen Teil im Holocaust ermordet wurde. Der Kontakt zu ihr war in der Gedenkstätte Yad Vashem entstanden, als eine Delegation aus Siegen-Wittgenstein im Partnerkreis Emek Hefer zu Besuch war, um die seit 50 Jahren bestehende Partnerschaft zu feiern. Caine habe sie angesprochen und von ihrer „Tante Käthe“ Stern erzählt, berichtete Raimar Leng. Ihr war 1939 die Flucht nach London gelungen. Aufgrund der aktuellen Situation in Israel könne sie aber zur Zeit nicht nach Deutschland reisen, Caine sagte ab. Leng: „Der Satz in ihrer Absage, der mich am meisten erschüttert hat, lautete: ‚Außerdem würde ich mich im Moment in Deutschland nicht sicher fühlen.‘“

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