Siegen. 28-jähriger Siegener erzählt, wie er verzweifelt um sein Leben kämpft. Sein ehemaliger Nachbar sagt seelenruhig: „Er hats verdient, ganz klar.“

Die zerborstene Schlafzimmertür hat ihm wahrscheinlich das Leben gerettet. Der axtschwingende Angreifer hatte zwar schon ein Loch hineingeschlagen. Aber der 28-Jährige stemmte sich in Todesangst dagegen; sein Nachbar konnte ihn nicht töten. Dass der psychisch schwer kranke Mann das tatsächlich vorhatte, daran besteht kaum Zweifel an diesem Prozesstag: Opfer und Täter bestätigen die Tötungsabsicht in ihren Aussagen am Montag, 21. August, vor dem Landgericht Siegen.

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In der Nacht zu Freitag, 17. Februar hörte er einen Knall, erzählt der Geschädigte. Beim dritten Mal schrak er aus dem Bett hoch, warf einen Blick in den Flur Richtung Wohnungstür – in diesem Moment flog sie demnach auf, der Beschuldigte trat ein. Mit einer Axt. „Ich warf die Schlafzimmertür zu und stemmte mich mit beiden Händen dagegen“, so der 28-Jährige. Der Angreifer, sein direkter Nachbar im ersten Obergeschoss des Mehrparteienhauses, schlug ein Loch in die Tür „von meinem Kopf bis zum Bauchnabel“ und weil er da nicht durchkam, schlug er auf die Hände des Opfers ein, das verzweifelt um sein Leben kämpfte.

Siegener hörte Hilferufe: „Lass mich in Ruhe, ich gehe hier drauf“

Er habe um Hilfe gerufen, der andere habe von Gott und dem Teufel gefaselt, satanistische Wörter, so glaube er; dass er ihn töten werde („du musst sterben“) und dafür gerne 25 Jahre kassiere. Er habe versucht, den Angreifer davon abzubringen: „Warum machst du das?“. Den Kampf hörte durch die dünnen Wände ein junger Mann im Nachbarhaus, eine Etage tiefer, er sagt ebenfalls aus: Sein Hund habe ihn nachts geweckt, „da war ein Riesentumult, ich hörte Hilferufe: ‘Lass mich in Ruhe, ich gehe hier drauf!’“. Er bestätigt die Schreie mit Gott, Teufel, Satan. „Es war wirklich heftig.“ Er rief die Polizei.

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Die kam schnell, das Blaulicht der Streifenwagen flackerte in die Wohnung. Das irritierte den Angreifer, sagt der Geschädigte: Immer wieder sei er zum Fenster hinter ihm gelaufen und habe nach draußen gespäht. Dann kehrte er demnach zurück und drang weiter auf ihn ein. „Sein Ziel war, mich um zubringen. Wenn man jemanden verletzen will, geht man doch mit den Fäusten drauf“, sagt der Mann. Mit ausgestreckten Armen habe er seine kaputten Hände gegen die zertrümmerte Tür gestemmt, wäre er mit dem Oberkörper näher gekommen, „hätte ich die Axt in den Kopf bekommen.“ Bis er eine solche Gelegenheit nutzte, durch Flur und Treppenhaus ins Freie floh, dabei verfolgte ihn der Angreifer und hieb ihm die Axt noch in den Rücken.

Immer mehr Nachbarn in dem Siegener Mehrparteienhaus bekamen Angst vor ihm

Sie wohnten demnach Tür an Tür auf der Etage, die Schlafzimmer grenzten aneinander, „wir hatten eigentlich nie Probleme“, sagt der Geschädigte. Ab und zu sei er mal lauter gewesen, beim Fernsehen, Videospielen, Kochen – die Wände seien wirklich sehr dünn. Einmal habe der Nachbar geklingelt und sich beklagt. Mit der Zeit wurde die Situation im Haus schwieriger. Als er vom Waschen aus dem Keller zurückkam, sei der Nachbar in seiner Wohnung gestanden. Er scheuchte ihn raus, der andere habe noch gesagt, er solle ruhig die Polizei rufen, er hätte nichts angefasst. Auch gegenüber anderen Parteien im Haus habe er sich zunehmend seltsam verhalten, habe etwa angebissene Lebensmittel in den Briefkasten gestopft. Alle hätten Angst bekommen, eine Frau habe ihn regelmäßig gebeten, etwas gegen den unheimlichen Nachbarn zu unternehmen, die Polizei rufen, das habe er noch abgewiegelt.

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Der 28-Jährige hat seine Arbeit verloren. Seine Hände heilen, aber langsam – Gefühl, Kraft und Beweglichkeit sind noch nicht wieder hergestellt, in seinem Job in der Industrie kann er sie nicht einsetzen. Dazu kämen massive psychische Probleme: Er könne seit der Tat nicht schlafen, vor allem nachts, meist sei er tagelang wach, bis er vor Erschöpfung wegdämmere. Die Wohnung hat er aufgegeben, Menschen aus seinem privaten Umfeld hätten sich von ihm abgewandt – manche würden wohl denken, er hätte etwas verbrochen oder fürchteten, selbst zum Opfer zu werden. „Meine Familie leidet sehr darunter, gerade meine Mutter.“

Angeklagter aus Siegen gilt als Gefahr für Allgemeinheit: Opfer gehört zu „den Bösen“

Die Aussagen des Angeklagten nachzuvollziehen, ist akustisch und inhaltlich nicht leicht, nicht nur für das Gericht. Laut Aktenlage hat der Mann, der in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht ist, eine paranoide Schizophrenie und starke Halluzinationen, er gilt als gemeingefährlich. Zur Tat selbst hat er im Gerichtssaal wenig beizutragen: Der Geschädigte habe zu „den Bösen“ gehört – sein Name taucht auch auf einer längeren Todesliste auf, die die Polizei auf seinem Rechner fand. „Man hätte alle der Reihe nach getötet, wenn man es geschafft hätte“, gibt er unumwunden zu. Der 32-Jährige spricht von sich abstrakt als „man“ – „man nahm sich das Recht dazu“.

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Zur Begründung liefert der hagere Mann – langes, schütteres Haar, struppiger Vollbart –, eine abstruse unzusammenhängende Weltsicht, vorgetragen meist in neutralem bis vorwurfsvollen Ton. Er sei auf ein Kreuz genagelt und danach ausgepeitscht worden, habe dann in der Folge festgestellt, dass er Jesus sei. Der Geschädigte sei dabei gewesen, dafür sei er wie die anderen auf der Liste zum Tod verurteilt worden, „er hat’s verdient, ganz klar“. Durch Cannabis – keine Droge, sondern „göttliches Licht“ – und jahrelanges Nachdenken habe er gelernt, telepathisch zu kommunizieren. Mit all dem habe der Geschädigte zu tun. Für den nächsten Prozesstag verlangt er „Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Astronomie“, um „in aller Ruhe zu beweisen“ – unter anderem dass der Leib Gottes unter einer Pyramide in der nordischen Götterwelt Asgard begraben sei.