Weidenau. Transmenschen gehen heute offener mit ihrer Situation um, doch in Teilen der Gesellschaft schlägt ihnen regelrechter Hass entgegen. Aber warum?
Immer erreichbar. Immer greifbar. Und immer mehr ist möglich. Dass Menschen das Gefühl haben, ständig für Anforderungen von außen bereitstehen zu müssen, ist nicht neu. Neu ist aber, dass die Digitalisierung technische Voraussetzungen geschaffen hat, mittels derer Menschen tatsächlich permanent verfügbar sind – sofern sie sich nicht bewusst ausklinken. Heribert Kellnhofer, psychoanalytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut mit Praxis in Siegen-Weidenau, befasst sich mit dem Thema und ist Co-Autor eines Beitrags im Fachbuch „Die Illusion grenzenloser Verfügbarkeit. Über die Bedeutung von Grenzen für Psyche und Gesellschaft“.
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„Grenzenlose Verfügbarkeit kann bedeuten, sich aufzugeben, alles mit sich machen zu lassen, eigene Bedürfnisse und Wünsche nicht ausreichend zu respektieren“, sagt Heribert Kellnhofer. Es geht nicht nur um die permanente Vernetzung über digitale Kanäle, sondern auch um ein „sich Fügen in die Forderungen der Gesellschaft und Politik“. Von außen werden Erwartungen an den Einzelnen oder die Einzelne herangetragen, oft immer noch in Form mehr oder minder starrer Vorgaben und Rollenbilder. Gleichzeitig steht aber – vor allem online – eine schier endlose Bandbreite an Möglichkeiten zur Verfügung für das, was Menschen tun oder eben auch lassen können.
Siegen: Heribert Kellnhofer begleitet transidente Jugendliche seit Jahren psychologisch
Der Siegener Analytiker arbeitet seit Jahren intensiv mit transidenten Jugendlichen zusammen – also mit jungen Menschen, die das ihnen bei der Geburt aufgrund körperlicher Merkmale zugeschriebene Geschlecht als falsche Zuordnung empfinden und ihren Körper entsprechend verändern lassen möchten. Heribert Kellnhofer begleitet die Betroffenen psychotherapeutisch und vorzugsweise in Gruppensitzungen. Um diese Arbeit und seine Erkenntnisse geht es in dem Beitrag „Möglichkeitsräume für das Denken über Geschlechts- und Körperdysphorie mit Adoleszenten“.
Als Experte gefragt
Heribert Kellnhofer spricht über Transgender-Themen und seine Arbeit mit Transjugendlichen deutschlandweit auch in Vorträgen.
Außenstehende Menschen denken beim Begriff „Transgender“ oft vor allem an Transfrauen, also Frauen, die in männlichen Körpern geboren wurden. Tatsächlich bemühen sich aber mittlerweile deutlich mehr Transmänner um eine Transition (geschlechtsangleichende Maßnahmen).
Der Untertitel „Werkstattgespräch mit einem Gruppenpsychotherapeuten“ macht deutlich, dass der Text in Frage-Antwort-Form aufgebaut ist. Gesprächspartner ist Prof. Frank Dammasch, analytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut mit einer Professur für psychosoziale Störungen an der Frankfurt University of Applied Sciences in Frankfurt am Main. „Ich bin so tief in dieser Arbeit: Da hilft es, wenn jemand mit mir darüber spricht“, erklärt Heribert Kellnhofer die Entscheidung für diese Textform. Dies schaffe einen „Blick von außen. Es ist gut, wenn man jemandem mit einer distanzierteren Perspektive dabei hat.“
Siegener Experte: „Transgender ist nicht schwarz-weiß, sondern ganz vielseitig“
Der Siegener Experte beschreibt die Außenseitergefühle, die viele Transjugendliche haben, und wieso die Gruppen ihnen Halt und Raum geben, sich zu öffnen. Wieso genau Menschen das Gefühl haben, im falschen Körper zu leben – wieso also körperliche Merkmale und psycho-sexuelle Identität nicht übereinstimmen –, ist noch nicht abschließend erforscht. Heribert Kellnhofer geht von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren aus, die ineinandergreifen. Die jeweilige Gewichtung kann dabei unterschiedlich sein. „Transgender ist nicht schwarz-weiß zu sehen, sondern ist ganz vielseitig“, betont er. „Was mir wichtig ist: Dass man Respekt und Achtung vor Transgendern hat.“
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Ein wesentlicher Punkt dabei: „Transgender schaden niemandem“, wenn sie ihren Weg gehen. Dennoch stoßen Betroffene oft auf Ablehnung, und die scheint eher zu- als abzunehmen. Diese Beobachtung korrespondiert damit, dass die Bereitschaft innerhalb der Gesellschaft, anderen Menschen mit offener Ablehnung und sogar direkt artikuliertem Hass zu begegnen, generell größer wird, zumindest innerhalb bestimmter Gruppen. Parallel sinke die Fähigkeit vieler Menschen, Positionen und Meinungen, die von der eigenen abweichen, zu akzeptieren; stattdessen fühlten sich viele Leute sogar angegriffen, wenn jemand ihren Standpunkt nicht teilt. „Gründet sich der Hass auf queere Menschen darauf, dass sie sich nicht den Normen zur Verfügung stellen – während vielen anderen Menschen der Mut fehlt, etwas zu ändern?“ „Queer“ ist der Sammelbegriff für all das, was nicht den konservativen Vorstellungen von Heterosexualität und Geschlechterbildern entspricht (und kein potenzielles oder tatsächliches Leid bei Unbeteiligten verursacht).
Die Gesellschaft muss damit leben, dass es Menschen gibt, die sich ihren Vorstellungen von grenzenloser Verfügbarkeit nicht fügen, die neue, eigene Wege suchen und finden“, sagt Heribert Kellnhofer. „Grenzenlose Verfügbarkeit gilt nur sich selbst gegenüber“.
Info:
Heribert Kellnhofer ist am Samstag, 22. Juli, von 11 bis 12 Uhr in der Buchhandlung Mankelmuth in Weidenau zu Gast, um Fragen zum Buch zu beantworten. Das Buch „Die Illusion grenzenloser Verfügbarkeit. Über die Bedeutung von Grenzen für Psyche und Gesellschaft“, herausgegeben von Martin Teising und Arne Buchartz, ist im Psychosozial-Verlag, Gießen, erscheinen. 301 Seiten, ISBN 978-3-8379-3260-7
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