Weidenau. Politik sollte in der Corona-Krise anders mit den Menschen kommunizieren, findet Kinder- und Jugendlichen-Psychoanalytiker Heribert Kellnhofer.

Fakten allein helfen in der Corona-Krise nicht weiter, ist der Kinder- und Jugendlichen-Psychoanalytiker Heribert Kellnhofer überzeugt. Damit Menschen mit Hilflosigkeit und Ohnmachtsgefühlen, wie die Pandemie sie hervorruft, umgehen können, sollte die Politik ihre Kommunikation verändern. Wie, das erläutert er im Gespräch mit Florian Adam.

Auch interessant

Als Kinder- und Jugendlichen-Psychoanalytiker: Welchen Blick haben Sie auf die Kommunikation in der Corona-Krise?

Heribert Kellnhofer: Ich lehne mich da an Bindungstheorien an. Für ein Kind ist es schon eine sehr reife Leistung, Ambivalenz auszuhalten – also beispielsweise den Widerspruch zwischen Sicherheit und Unsicherheit, zwischen Wohlbefinden und Unbehagen. Und derzeit gibt es sehr viele Widersprüche.

Was hat das mit Erwachsenen zu tun?

Hilflosigkeit und Ohnmacht sind eine Erfahrung des Säuglings, die im Körpergedächtnis gespeichert werden...

...und die zwangsläufig auftritt, weil wir als Säuglinge nun einmal vollkommen von anderen abhängig sind...

...genau. Es gibt ein kognitives Gedächtnis und ein Körpergedächtnis, und diese Erfahrung wird auf körperliche Weise gespeichert – ohne, dass es uns bewusst ist. Diese fundamentale Erinnerung können wir schlecht ertragen. Wir schieben sie also von uns weg. Doch die Ohnmächtigkeit des Säuglings bleibt im Körpergedächtnis. Die Verleugnung einer Bedrohung ist einer der grundlegenden Abwehrmechanismen in der Entwicklung des Menschen.

Siegener Psychoanalytiker: Viele Widersprüche in der Corona-Krise

Erwachsene sehen sich eigentlich selbst gerne so, dass sie ihre kindlichen Muster überwunden haben: Man ist ja schließlich erwachsen.

Trotzdem greift der Erwachsene auf diesen frühesten Mechanismus zurück. Das sehen Sie an ganz vielen Stellen. Wenn beispielsweise Lärm aus einer bestimmten Richtung kommt, wendet sich ein Säugling ab – Erwachsene tun das genauso. Eine körperlich empfundene Abwehr einer Bedrohung kann aber in Verleugnung übergehen. Und die Pandemie löst viele Ängste aus: Vor Krankheit, Vereinsamung, Verlust der Arbeit.

Was bedeutet das im Hinblick auf Kommunikation in der aktuellen Krise – oder in Krisen ganz allgemein?

Es ist ein Trugschluss zu glauben, man könnte Erwachsene nur rational erreichen. Außerdem erlebe ich eine unsichere und ambivalente Kommunikation seitens der Politik. Da gibt es viele Widersprüche. Nehmen Sie nur Astrazeneca: Morgens wird dieser Impfstoff noch verwendet, abends sind die Impfungen damit ausgesetzt.

Auch interessant

Wofür es Gründe gibt.

Natürlich. Aber es gibt einige Beispiele: Im Supermarkt bildet sich eine Schlange an der Kasse, aber das Bekleidungsgeschäft gegenüber darf nicht öffnen. Das versteht kein Mensch. Dazu kommen oft widersprüchliche Aussagen oder Aussagen, die schon nach kurzer Zeit keine Gültigkeit mehr haben. In der Konsequenz fühlt man sich nicht mehr sicher – man kann sich auf nichts mehr verlassen. Das ist schwer auszuhalten, besonders für Menschen, die früher nicht gelernt haben, mit Ambivalenz umzugehen. Viele wenden sich ab und gehen in die Verleugnung. Manche wenden sich den Querdenkern zu.

Heribert Kellnhofer, Siegen: „Die Information muss auch körperlich ankommen“

Fakten und Zahlen sind doch aber in der momentanen Lage unerlässlich?

Ganz klar. Aber man muss neben kognitiver Wissensvermittlung berücksichtigen, dass es eine Wechselwirkung zwischen Psyche und Körper gibt. Die Information muss nicht nur gedanklich, sondern auch körperlich ankommen. Das gelingt vielen Politikern nicht.

Wie könnte das Ihrer Einschätzung nach gelingen?

Politiker müssten den Bürgern zeigen: Wir sitzen im selben Boot. Und nicht: Wir sitzen hier oben und diktieren Euch Regeln.

Auch interessant

Das ist hart formuliert.

Ich denke, einige Menschen empfinden es so.

„Viele Politiker können nicht vermitteln: Wir sind in der Krise Teil der Bevölkerung“

Liegt die Hilflosigkeit, die viele Leute derzeit spüren, nicht schlicht in der Natur der Sache?

Schon. Die Frage ist: Wie kann man Ohnmacht und Hilflosigkeit aushalten? Beim Kind hilft die Nähe von Vater und Mutter. Dabei dürfen aber nicht immer nur Bedrohungen Thema sein. Stellen Sie sich ein Kind vor, das Probleme beim Schlucken hat und die Mutter sagt immer nur „Dann musst Du sterben.“ Besser wäre es, das Kind zu trösten, es zu ermutigen: „Das wird schon wieder, versuch es doch erst einmal mit einem kleinen Schluck, ich bin bei Dir….“

Die Lage ist aber bedrohlich.

Trotzdem müsste meiner Meinung nach in der Kommunikation das Positive viel mehr berücksichtigt werden: Was wurde gemacht, was wurde erreicht? Die reale Situation wird viel zu wenig gesehen: Wie viele Leute geimpft sind, wie viele genesen. Man sollte auch die Selbstwirksamkeit der Bürger stärken, deutlich machen: „Ihr könnt etwas tun“ – und wertschätzen, was die Menschen bereits geleistet haben, um mitzuarbeiten. Vor allem wären vertrauensbildende Maßnahmen wichtig. Dafür darf man aber nichts versprechen, was man nicht halten kann.

Vieles wird doch einfach von der Realität überholt?

Man sollte dennoch offen und transparent mit der Situation umgehen. Vor einem Jahr hat die Politik eingeräumt: „Wir wissen nicht, wo wir stehen.“ Das war ehrlich, das haben die Leute verstanden. Ich würde mir wünschen, dass Politiker offen sagen, wenn sie etwas nicht wissen. Dann fühlen sich Menschen eher ernstgenommen in ihrer Angst. Ambivalenz ist kaum zu ertragen, aber es wird Vieles so diffus gelassen. Die Menschen brauchen reale Unterstützung, ein „Zusammen“ von Politik und Bürgern: „Wir fühlen uns in Euch ein, wir schütten Euch nicht nur mit Informationen zu.“

Auch interessant

Politikerinnen und Politiker sollten sich also stärker als Menschen – und Bürger – zu erkennen geben?

Viele Politiker können nicht vermitteln: Wir sind in der Krise Teil der Bevölkerung, wir gehören dazu. Die Politik lässt sich in der Krise von Wissenschaftlern beraten, und das ist auch richtig, das ist ein ganz wichtiger Punkt. Ich hätte mir aber gewünscht, dass sie beispielsweise auch Psychologen und Pastoren, Pädagogen, Soziologen und Bürgervertretungen dazugenommen hätte – was die Gemeinschaft abbildet.