Siegen. Geboren im falschen Körper: Der Siegener Psychoanalytiker Heribert Kellnhofer betreut transidente Jugendliche. Ein Besuch in einer Gruppenstunde.
In der Pubertät wurde es endgültig zum Problem. „Ich war überrascht“, sagt Felix über die Zeit, als sich sein Körper unübersehbar weiblich entwickelte. „Ich merkte, das geht in eine Richtung, die nicht richtig ist.“ Der heute 20-Jährige kam körperlich als Mädchen zur Welt, wusste aber immer schon, dass er ein Junge ist. Mit den Veränderungen in der frühen Jugend kam die erschütternde Gewissheit, „dass sich das, was für mich 100-prozentig klar ist, nicht in meinem Körper widerspiegelt. Ich fiel in ein tiefes Loch. Ich habe leidvolle Jahre durchgestanden.“
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Felix sitzt mit fünf anderen jungen Männern in der Praxis von Heribert Kellnhofer. Der Kinder- und Jugendlichen-Psychoanalytiker betreut derzeit fast 40 Jugendliche aus dem Raum Siegen, die transident sind, deren körperliches Geschlecht also nicht zu ihrer psychischen Geschlechtsidentität passt. „Gefangen im falschen Körper“, sagt Heribert Kellnhofer. Das Bild wird oft herangezogen, wenn es um Transidentität geht – weil es die Problematik einfach genau auf den Punkt bringt, wie der Analytiker betont. Die Arbeit mit transidenten Jugendlichen ist einer seiner Schwerpunkte. Königswege, Patentrezepte gibt es nicht, „jeder und jede ist individuell“, keine Geschichte gleicht der anderen. Und nicht alle, die zu ihm kommen und sich zunächst als transident bezeichnen, sind es auch. Die muss er vor einem Fehler bewahren. Denn ab einem gewissen Punkt der körperlichen Behandlung ist diese nicht mehr umkehrbar.
Siegen: Wie Jugendliche Gewissheit über ihre Transidentität erlangen
„Ich beschwere mich hier wöchentlich über Menschen, die zum Arzt gehen und direkt Hormone bekommen“, sagt Finn (23). Das Thema Transidentität ist gerade in den vergangenen Jahren stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt, es gibt transidente Models, Youtuber, Künstler. „Das Problem ist: Es schafft Aufmerksamkeit“, sagt Felix. Von den jungen Männern allerdings, die sich regelmäßig in dieser Gruppe treffen, lechzt definitiv keiner danach. Manche Leute wollten sich mit der Behauptung interessant machen, andere hofften, durch den Wechsel des körperlichen Geschlechts ihre andersgearteten Schwierigkeiten oder Belastungen in den Griff zu kriegen.
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Glamourös oder einfach ist an tatsächlicher Transidentität aber nichts. „Wir waren schon immer Männer“, sagt Finn. „Und wir sind immer auf andere angewiesen, auf Ärzte, auf Therapeuten.“ Diejenigen, die sich fälschlich als transident bezeichnen und damit bei manchen Zeitgenossen den Eindruck erwecken, es handele sich dabei generell um eine Laune oder eine amüsante Extravaganz, „machen für uns den Weg nur noch schwieriger“.
Viele transidente Jugendliche leiden lange, bevor sie sich outen
Er stelle oft harte Fragen, unangenehme Fragen, sagt Heribert Kellnhofer; und er stelle sie immer wieder. Die jungen Männer und Frauen, mit denen er arbeitet, müssen sich nachhaltig sicher sein, dass sie sich mit allen langfristigen Konsequenzen richtig entscheiden. Manche erkennen einen Irrtum und brechen die Gruppe und die Behandlung ab. Auch deshalb ist die therapeutische Begleitung vorgeschrieben, wenn Menschen die körperliche Geschlechtsangleichung – durch Hormone und Operationen – vornehmen lassen wollen. Etwa 15 Operationen sind dafür insgesamt bei Transmännern erforderlich, zwei bis drei bei Transfrauen.
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Seit 2019 gilt Transidentität nicht mehr als Krankheit, es „ist eine angeborene Variante der geschlechtlichen Identität, bei der die Geschlechtsidentität mit dem zugewiesenen Geschlecht nicht übereinstimmt“, erklärt der Experte. Nicht alle Betroffenen empfänden Leidensdruck, viele aber tun das. Es kommt häufig zu einer massiven Ablehnung des als falsch empfundenen Körpers, zu Depressionen, Angststörungen. Oft wissen die Kinder und Jugendlichen auch lange gar nicht, was eigentlich mit ihnen los ist, was genau ihnen all die Schwierigkeiten bereitet.
Die körperlichen und psychischen Veränderungen transidenter Jugendlicher
Felix litt an einer Essstörung, wollte seinen Körper so in eine männliche Richtung verändern, „aber ich habe nicht an den richtigen Stellen abgenommen“. Er habe lange nicht genau formulieren können, was in ihm vorging. „Dann habe ich einen Transmann auf Youtube gesehen. Da ist alles von mir abgefallen. Ich bin zu meiner Mutter gerannt und habe gesagt: ,Ich weiß endlich, was mit mir nicht stimmt’. Und es gab, als ich mich geoutet habe, keinen einzigen Menschen, der überrascht war.“
Klare Signale schon in den ersten Lebensjahren
Transidentität äußert sich im Kindesalter bereits ab 2 bis 3 Jahren, sagt der Kinder- und Jugendlichen-Psychoanalytiker Heribert Kellnhofer. Aktuell seien etwa zwei bis drei Prozent der Kinder überzeugt, im falschen Körper geboren zu sein.
„Ursachen sind aus meiner Sicht hormonelle Einflüsse in der Schwangerschaft und andere genetische Faktoren, die bis heute nicht hinreichend erforscht sind.“
Die Verteilung hat sich deutlich verändert, wie Heribert Kellnhofer feststellt. Betreute er vor acht Jahren etwa neun Mal so viele Transfrauen wie Transmänner, so sei das Verhältnis heute umgekehrt. Diese Entwicklung sei international zu beobachten. In Schweden zum Beispiel „ist die Zahl der jungen Frauen, die sich im falschen Körper fühlen, in den letzten Jahren um 1500 Prozent gestiegen“, sagt der Therapeut. Warum das so ist, sei noch nicht hinlänglich geklärt.
Dass transidente Menschen an einen Punkt kommen, an dem sie ihren Körper auch ohne physisch angleichende Behandlung nicht hassen, „gelingt in den seltensten Fällen“.
Eine 18-monatige Begleittherapie ist vorgeschrieben, der Therapeut muss gegenüber Ärzten, Krankenkasse und medizinischem Dienst Auskünfte über den Verlauf der Therapie und Zustand der Patienten geben. Die Aussagen „sind die Grundlagen für weitere Behandlungsschritte“, erklärt Heribert Kellnhofer.
Die körperliche Angleichung ist ein entscheidender Aspekt, aber nicht der einzige. Einige Jungs in der Gruppe haben die Hysterektomie, die Entfernung der Gebärmutter, und die Mastektomie, die Entfernung der weiblichen Brust, schon hinter sich. Aber es dreht sich in dieser Runde auch maßgeblich um die Identität, darum, was einen Mann allgemein definiert – und was jeden der jungen Männer im Speziellen ausmacht. „Das ist ein Prozess“, betont Heribert Kellnhofer. „Es geht darum, die eigene Männlichkeit zu finden.“
Siegener Therapeut hilft bei der Suche nach dem eigenen Bild von Männlichkeit
„Ich war schon immer ein Mann. Aber es ist schwierig, weil man nicht so erzogen wurde“, sagt Finn. Etwa ein Jahr lang habe sich die Gruppe mit der Frage beschäftigt „Wo nehmen wir unser Bild von Männlichkeit her?“. Nicht in allen Familien sind männliche Vorbilder greifbar, außerdem verändert sich das Männer- und Frauenbild in der Gesellschaft in der jüngeren Vergangenheit deutlich – die strengen Zuschreibungen und engen Grenzen wanken oder brechen weg, die Möglichkeiten der individuellen Identitätsfindung werden vielfältiger.
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„Anfangs habe ich mich stereotyp männlich verhalten“, sagt Felix. Er habe so erreichen wollen, auf jeden Fall von außen als Mann wahrgenommen zu werden. „Aber das war nicht der Mann, der ich sein will.“ Heute trägt er etwas Schmuck, seine Fingernägel sind schwarz lackiert, die Haare etwas länger, er ist selbstbewusst, eloquent und freundlich; ein moderner Mann, der keine Klischees bedienen muss, um sich seiner selbst 100-prozentig sicher zu sein. Andere pflegen einen klassischer maskulinen Style – aber das ist eben eine Typfrage, und diese persönliche Ausformung der Identität ist auch Teil der Begleittherapie.
Siegen: Gruppentherapie gibt transidenten Jugendlichen Halt
Heribert Kellnhofer bietet Einzel- und Gruppentherapie an. Gerade letzteres ist für viele Menschen wichtig. Zentral ist immer der Ansatz, „individuell hinreichend jeden einzelnen Betroffenen zu begleiten, damit er sich verstanden, unterstützt und respektiert fühlt“, wie der Therapeut unterstreicht.
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„Die Gruppe war der erste Ort, wo mich alle ,Finn’ genannt haben. Ich habe 18 oder 19 Jahre darauf gewartet, so wahrgenommen zu werden“, erzählt der 23-Jährige. Hier „kann ich mich austauschen mit Menschen, die dasselbe erleben“, die Gruppe gewähre „Stabilität, Sicherheit, Sich-verstanden-fühlen“.
Das Umfeld der Transjugendlichen spielt in der Therapie natürlich eine Rolle, die Erlebnisse und Erfahrungen in der Familie, der Schule, am Arbeitsplatz. Eltern müssten sich mit der Situation auch erst einmal zurechtfinden, räumt Heribert Kellnhofer ein, hinzu kommt die Sorge um das eigene Kind in Anbetracht von Hormonbehandlungen und operativen Eingriffen. Die Gesellschaft sei toleranter als früher, sagt der Analytiker, gerade mit den Siegener Schulen erlebe er die Zusammenarbeit als gut. Trotzdem verhielten sich nicht alle Mitmenschen verständnisvoll oder auch nur angemessen.
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Wie das Umfeld auf Transidentität reagiert – und was die Jugendlichen richtig nervt
„Ich beantworte auch primitive Fragen“, sagt Felix. Klar, es gebe Leute, die indiskret oder unsensibel seien, wenn sie ihn ansprechen. Aber er reagiere nicht abwehrend, das Thema sei sehr wichtig, darum redet er mit anderen darüber, wenn sie auf ihn zukommen. „Was ich mir wünsche: Dass alles genauso ernsthaft aufgenommen wird, wie ich es sage.“
Für Finn hingegen gibt es etwas, was ihn wirklich ärgert: „Wenn Leute sagen: ,Ich finde es großartig von Dir, dass Du diesen Weg gehst’“. Es handele sich nicht um irgendeine Entscheidung, die er getroffen habe. Es geht um das Leben, das für ihn nun einmal das einzig richtige ist – „und das habe ich mir nicht ausgesucht“.
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