Geisweid. Die Siegenerin Traute Fries hat eine beeindruckende Lebensgeschichte. Ihr Markenzeichen ist dabei ihre Beständigkeit, aber auch noch vieles mehr.
Traute Fries wohnt im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses am Fuße des Wenscht in Geisweid. Von ihrem Schreibtisch kann sie auf den großen Schwanenteich blicken. „Wenn du mal alt wirst, bist du froh, wenn du unten wohnst“, hatte ihre Mutter ihr 1978 geraten, als Traute die Wohnung bezog. Fast ein halbes Jahrhundert lebt sie nun dort – und auch das beschreibt einige ihrer wichtigsten Eigenschaften: Beständigkeit und Zufriedenheit. Geboren wurde sie als viertes von sechs Kindern Ende April 1945, war also gerade noch ein „Kriegskind“. Ein Kind des Krieges aber insofern, als sie im Alter von zwei Jahren beim Klettern von der Mauer eines zerstörten Bunkers fiel und sich einen Schädelbasisbruch zuzog.
Beständigkeit
Bei den Stahlwerken Südwestfalen begann Traute Fries 1962 ihre Berufslaufbahn als Praktikantin und wurde im Laufe der Jahre zur Personalreferentin für Angestellte befördert. Bevor sie 2005 in Rente ging, war sie für die gesamte kaufmännische Berufsausbildung verantwortlich. Sechs Mal wechselte ihre Firma, die in ihren besten Jahren über 6000 Beschäftigte hatte, den Namen, hieß u.a. Krupp Stahl und Deutsche Edelstahlwerke. Doch Traute Fries wechselte nie.
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Auch nicht ihre Partei, die SPD, der sie 1970 beitrat und für die sie ab 1979 für Kommunalwahlen kandidierte. Fast immer gaben ihr die Bürger im Wahlkreis Setzen, Dillnhütten, Hoher Rain die meisten Stimmen („Ich habe zwar nicht im Wahlkreis gewohnt, gehörte aber allen Vereinen an und war bei den Festen dabei“), bis sie 2020 freiwillig auf eine weitere Kandidatur verzichtete. Natürlich wurde Traute Fries für ihre jahrzehntelange Ratstätigkeit geehrt. „Mit netten Worten, einem Goldenen Krönchen, einem Bierbecher und einem Weinglas“, schmunzelt sie noch heute.
Ihre Wurzeln
Sicherlich hat Traute Fries diese Beständigkeit von ihrem Vater übernommen. „Ich war eine vaterbezogene Tochter“, sagt sie. Wilhelm Fries, 1901 geboren und nach einem langen Leben mit 99 Jahren gestorben, hatte drei Brüder im 1. Weltkrieg verloren und war seit dieser traumatischen Erfahrung Pazifist und Sozialdemokrat. Da er als Spezialist für Schweißtechniken galt, wurde er im 2. Weltkrieg als „unabkömmlich“ eingestuft und musste nicht Soldat werden. Nach Kriegsende berief man Wilhelm Fries durch die zuständige Besatzungsmacht zum Beigeordneten für Wohnungsangelegenheiten im Amt Weidenau, dem damals größten Amt im Kreis Siegen. Der Grund: Gebraucht waren vor allem Bürger, die keine Nazi-Vergangenheit hatten. Und davon gab es nicht so viele. So wurde Fries vom Arbeiter zum Beamten, der auch die Vollmacht hatte, Wohnraum zu beschlagnahmen und sie Flüchtlingen zu geben, die ab 1945 zu Tausenden auch im Siegerland Schutz suchten. Ihrem Vater hat Traute Fries das Buch „Wilhelm Fries aus Weidenau“ gewidmet, eine ihrer vielen Veröffentlichungen.
An ihrem umfangreichsten Buch über „Die Deutsche Friedensgesellschaft“ in unserer Region hat Traute Fries über vier Jahre recherchiert. Diese von Bertha von Suttner gegründete Vereinigung hatte auch im Siegerland damals Hunderte von Mitgliedern, darunter Wilhelm Fries. Bertha von Suttners Aufruf „Die Waffen nieder!“ als Theaterstück wurde 1908 uraufgeführt: In Siegen am Kaisergarten. Pazifismus war damals weit verbreitet. Auch der Siegerländer Dichter Adolf Wurmbach, wegen seiner Haltung 1933 aus dem Schuldienst entlassen, gehörte dazu. Traute Fries kann sich aufregen über die falschen Darstellungen, die vor allem von einem selbsternannten Historiker zu diesem Thema verbreitet werden.
Geschichte der Juden
Ein besonderes Anliegen ist für Traute Fries, die Geschichte der Juden im Siegerland lebendig zu halten. Seit 1977 engagiert sie sich in der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und später im Aktiven Museum Südwestfalen durch Führungen für Schüler- und Erwachsenengruppen. Sie hilft mit bei den Verlegungen von Stolpersteinen, die an ermordete jüdische Mitbürger erinnern sollen, organisiert Rundgänge, bei denen sie zu jedem dort aufgeführten Namen eine Geschichte erzählen kann.
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Einer bedeutenden Persönlichkeit hat Traute Fries einen besonderen Vortrag gewidmet: Hugo Hermann und sein bewegtes Leben zwischen dem Siegerland und Israel. Und dabei verschweigt sie auch nicht, dass dieser ziemlich rechthaberisch sein konnte, wenn es um die Geschichte der Siegener Juden ging. Aktuell beschäftigt sie die frühere Geisweider Familie Schatzki und ihre Söhne, die gerade noch rechtzeitig vor den Nazis fliehen konnten, in alle Welt verstreut wurden und besondere Karrieren hinlegten: Erich als genialer Flugzeugkonstrukteur in den USA, Richard als Radiologe und Harvard-Professor, Paul, der zunächst in England als Textilingenieur arbeitete, nach Australien auswanderte und dort ein berühmter Herzspezialist wurde.
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Wie man so etwas herausfindet? Durch das Aufspüren von Quellen, u.a. der Schülerlisten des Siegener Löhrtor-Gymnasiums: Denn alle drei Schatzkis waren dort zur Schule gegangen. Traute Fries ist immer noch fassungslos, welche Genies damals aus Deutschland flohen und damit für das Land verloren gingen.
Historische Spaziergänge
Historische Spaziergänge beginnen praktisch vor ihrer Haustür. Es sind Wanderungen durch die Wenscht-Siedlung, die Anfang der 50er Jahre durch Dr. Erich Dudziak, den damaligen Arbeitsdirektor der Stahlwerke Südwestfalen, initiiert wurde. Reihenhäuser und Wohnblocks im Wechsel, Schulen und Kindergärten… Eine Stahlarbeitersiedlung. Anfangs lebten 6000 Menschen hier, heute etwa 4000, viele Familien schon in der 3. Generation.
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Traute Fries, auch Vorsitzende des Heimat- und Verkehrsvereins Hüttental, führt die Besuchergruppen vor allem auch durch den sorgfältig restaurierten, großzügigen Park mit dem kleinen Schwanenteich. Besonders beeindruckend sind dabei die 30 Kunstwerke: Skulpturen der Brunnenkinder, seilspringende Mädchen, bockspringende Kinder, Hüttenjungarbeiter, Walzwerker… Um die 80 Besucher waren es im letzten Jahr, die Traute Fries durch „ihre“ Siedlung führen konnte.
„Rinnende Röhren“
Ihren Siegerländer Zungenschlag würde man auch unter Hunderten Besuchern am Nordkap heraushören. Dieses rollende „R“ hat ihr vor einigen Jahren sogar den Programmtitel „Traute“ des legendären Duos „Weigand und Genähr“ eingebracht. Das kam so: Als unsere Zeitung im November 2003 einen Wettbewerb startete, wie man das Röhrenkunstwerk an der Siegerlandhalle nennen könnte, schlug Traute Fries „Rinnende Röhren“ vor – und gewann. Und die vielen Besucher der Kabarett-Abende lachten sich schief, als Christa Weigand in ihrer Rolle als Ursel eben diese „Rinnenden Röhren“ genüsslich zelebrierte.
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