Geisweid. „Ich bin in mein Siegerland verliebt und habe Angst, ob ich die Umstellung schaffe“: Der legendäre Politiker Loke Mernizka geht. Eine Würdigung.
Er ist ohne Zweifel einer der bekanntesten Siegerländer: Loke Mernizka, der Mann mit der markanten Figur, der wie kein Zweiter das für die Region so typische „R“ rollt, der als Politiker für seine Partei SPD Wahlerfolge in Serie erzielte, ohne den so manche Einrichtung in seiner Heimatstadt nicht entstanden wäre und der auch nach Beendigung seiner politischen Laufbahn ein fester Bestandteil des öffentlichen Lebens insbesondere seines Stadtteils Klafeld-Geisweid geblieben ist.
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Dort hat der 83-Jährige sein Leben lang gewohnt, in den letzten Jahrzehnten in seinem Haus direkt am idyllischen Wiesenbächlein Sohlbach. Doch das alles ist bald Vergangenheit: Das Haus ist verkauft, die Abos seiner beiden Heimatzeitungen, die er täglich liest, sind gekündigt. Loke Mernizka räumt auf, sortiert, entsorgt auch einiges: Denn all das, was da in seinem bisherigen Leben an Urkunden, Briefen, Dokumenten und vor allem Büchern zusammengekommen ist, kann er nicht mitnehmen ins hessische Kaufungen in der Nähe von Kassel, wo die Tochter seiner Frau Erika wohnt.
Loke: Woher kommt eigentlich der ungewöhnliche Vorname? Von einem nordischen Gott
Loke Mernizka erblickte 1939 in Dillnhütten das Licht der Welt, gemeinsam mit seiner Zwillingsschwester Anja, die aber schon mit 18 Monaten starb. Seine Mutter Margarete stammte aus dem hessischen Schwalm-Eder-Gebiet und hieß mit Mädchenname Fresenius, stammt also von der Familie ab, die mit Medizin-Technik und Kliniken Milliardenumsätze macht. Loke: „Meine Mutter gehörte aber zum armen Teil der Familie.“ Sein Vater Roman hatte polnische Wurzeln und trug den Nachnamen Witowinski, der dann in der Nazi-Zeit arisiert und in Mernizka umgewandelt wurde. Sein ungewöhnlicher Vorname ist abgeleitet von Loki, dem nordischen Gott des Feuers.
Loke, seine Schwester und die Mutter lebten anfangs in einer winzigen 2-Zimmer-Wohnung, das Klo im Treppenhaus teilten sie mit anderen Familien, die Waschgelegenheit war auf dem Flur. An seinen Vater hat er nur schemenhafte Erinnerungen, zumal dieser als Soldat seit 1944 vermisst war. Dafür einige mehr an Pfarrer Ochse, den er durch seine Tante als Kind kennenlernte. Einen der wenigen katholischen Geistlichen, der den Nazis die Stirn bot und dem zu Ehren der Platz hinter der Marienkirche in der Siegener Oberstadt den Namen „Pfarrer Wilhelm Ochse Platz“ erhielt.
Kriegskind Loke Mernizka tritt in Fußstapfen des Vaters: Er geht ins Stahlwerk
Letztendlich verdankt Loke Mernizka der Tatsache, als Kriegskind aufgewachsen zu sein, eine ganz große Leidenschaft, die bis heute geblieben ist: Das Lesen. „Das hat mir meine Mutter beigebracht, als die Wohnungen bei Bombenangriffen verdunkelt werden mussten.“ Also schon, bevor der kleine Loke 1946 in Geisweid eingeschult wurde. Besonders beeindruckten ihn „Herr der 7 Meere“, ein Bericht über die Weltumsegelung von Magellan, vor allem aber „Onkel Toms Hütte“ über das Schicksal der Sklaven. „Vom Winde verweht“ hatte er schon lange gelesen, bevor er den Film sehen konnte. Da die Mernizkas all die Bücher nicht kaufen konnten, war die Leihbücherei Lokes zweite Heimat. „Dä Jong frisst de Böcher, dä sall moa lewer wat Ahstänniges ässe“, sagten die Nachbarn über die Leseleidenschaft des Jungen. (Loke war damals, man mag es kaum glauben, noch gertenschlank.)
Mit 14 Jahren ging Loke Mernizka dahin, wo auch sein Vater schon gearbeitet hatte: Zu den Stahlwerken Südwestfalen. Lehre oder Anlehre war die Frage, die aber schnell entschieden war, denn als Lehrling hätte er 25 Mark monatlich bekommen, in der Anlehre als Walzwerker aber 70 Mark. Da die Mutter nur eine schmale Rente bekam – der Vater wurde erst 1953 für tot erklärt- entschied er sich, Anlehrling zu werden und blieb Walzwerker bis zum Renteneintritt, wobei er ab 1974 dem Betriebsrat angehörte. Auch da hatte er sich zunächst an den Ratschlag der Mutter gehalten: „Geh in die Gewerkschaft, aber nicht in eine Partei“. Der IG Metall gehört Loke Mernizka inzwischen fast 70 Jahre an, wobei er dadurch auch einige Zeit Aufsichtsratsmitglied der Krupp AG Essen wurde, deren damaliger Vorsitzender der legendäre Bertold Beitz war.
Was Loke Mernzika in seiner langen Karriere machte, konnte nur einer: Er selbst
1966 trat Loke Mernizka in die SPD ein. Und selbst wenn dies ein Klischee-Begriff ist: Den dann folgenden Weg kann man nur als Bilderbuch-Karriere bezeichnen. Schon drei Jahre später Einzug in den Rat der Stadt Hüttental, dem er nach der Zusammenlegung mit Siegen fast 30 Jahre lang angehörte, davon einige Wahlperioden als Fraktionsvorsitzender. Übrigens immer von der Bevölkerung seiner Wahlkreise direkt gewählt, ebenso wie bei den vier Wahlen zum Landtag in Düsseldorf, dem er von 1980 bis 2000 angehörte. Hinzu kommen 30 Jahre im Unterbezirksvorstand Siegen-Wittgenstein, 23 Jahre Bezirksvorstand Westliches Westfalen, Mitglied des Parteirates…
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All diese Ämter zu sortieren, all die Termine wahrzunehmen, das konnte nur einer: Er selbst, und das, obwohl er nie einen Führerschein gemacht hatte. Manchmal fuhren ihn Freunde, meist aber nahm er Züge, die damals noch D-Zug hießen. Auch zu den Bundesversammlungen zur Wahl der Bundespräsidenten in Bonn und Berlin, den vielen Parteitagen. Und vor allem den Sitzungen des legendären Bundesvorstandes der Jungsozialisten, dem er angehörte: Damals wie heute vorwiegend Sozialarbeiter oder Akademiker, die anschließend beeindruckende Karrieren machten etwa Hans Eichel, später Bürgermeister von Kassel, Ministerpräsident von Hessen und Bundesfinanzminister, Rudolf Scharping und Heidi Wieczorek-Zeul als Bundesminister, Johano Strasser als Publizist, Schriftsteller und Präsident des PEN-Zentrums Und dazwischen er, der bodenständige, volksnahe Walzwerker aus dem Siegerland. Einmal im Jahr traf sich der gesamte Vorstand in Südtirol, um in der Abgeschiedenheit der Berge über politische Strategien zu diskutieren, vor allem aber etwas zu wandern, viel zu essen und noch mehr zu trinken. Lächelnd erinnert sich Loke Mernizka: „Als ich einmal mit dem Zug in Bozen ankam, standen die Vorstandskollegen am Bahnsteig und hielten ein Spruchband hoch: Loke aus dem Siegerland, Südtirol reicht dir die Hand.“
Loke Mernizka forderte immer: Nicht am Posten kleben. Und handelte entsprechend
Der Schnitt All das endete im Jahr 2000: Loke Mernizka setzte um, was er schon als Jungsozialist immer gefordert hatte: Nicht an seinen Posten zu kleben, bis man abgewählt wird. Er trat von allen Ämtern zurück. Auf das, was er angestoßen, maßgeblich unterstützt oder im Hintergrund angerührt hat, kann Loke Mernizka stolz sein: Die Psychiatrische Abteilung des Kreiskrankenhauses, das Aktive Museum, das Freudenberger Technikmuseum, der Bau des Apollo-Theaters, um nur einiges zu nennen. Sehr geholfen hat dabei seine burschikose, direkte Art: „Auch alle Staatssekretäre und persönliche Referenten der Landesminister kannte ich persönlich“, sagt er. Und alle wussten bei seinen Besuchen in den Ministerien: „Dem kann man nichts abschlagen.“
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Loke Mernizka lernte im Laufe dieser aktiven Jahre viele bedeutende Persönlichkeiten kennen: Willy Brandt und Helmut Schmidt, die er auf Betriebsversammlungen von Krupp-Stahl in die Siegerlandhalle einlud, Heinrich Böll, Günter Grass. Vor allem aber Johannes Rau: Zunächst als Landesminister, dann Ministerpräsident von NRW und später Bundespräsident. Als Loke im Jahr 1991 Erika Moser heiratete – seine erste Frau Uschi, die Mutter seines in diesem Jahr verstorbenen Sohnes Armin, war 1977 gestorben – war Johannes Rau dabei: Als Trauzeuge.
Von Loke Mernitzkas legendärstem Auftritt gibt es sogar eine Schallplatte
Die tiefste Freundschaft verband Loke Mernizka aber mit Siegfried Dreher: Als Kollege bei Krupp-Stahl, im Betriebsrat, als Genosse in der SPD, als Berater in allen Lebenslagen. Siegfried Drehers Tod im Jahr 2008 traf ihn bis ins Mark. Für die Trauergemeinde bei dessen Beerdigung auf dem Lindenbergfriedhof wird Loke Mernizkas Abschiedsrede für seinen Freund immer unvergessen bleiben. Und feiern konnte Loke Mernizka! Ganz privat, vor allem aber in großer Gesellschaft. Legendär bis heute ist sein Auftritt beim großen Festabend eines Parteitages in Dortmund, als er „Kalinka“ vortrug: „Ich habe zwar den Ton nicht getroffen, aber am Ende standen alle Delegierten auf den Stühlen“, schmunzelt er. Wer es nicht glaubt: Von diesem Ereignis wurde sogar eine Schallplatte gepresst: „Die Rote Hitparade“. Das heimische Apollo hat Loke Mernizka nicht nur politisch unterstützt, sondern war auch aktiv dabei: Mit einer Rolle in Magnus Reitschusters „Die Busch-Brüder“. Wobei er schon vorher am Oberen Schloss Theatererfahrung sammeln konnte, als er bei Shakespeares „Sommernachtstraum“ mit Nachthemd und Zipfelmütze auftrat.
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Eins hat Loke Mernizka bis heute nicht verlernt: Eine eigene Meinung zu haben und sie immer klar zu äußern. So steht er der aktuellen Kommunalpolitik seiner Partei skeptisch gegenüber. „Der Begriff Universitätsstadt Siegen hat ganz viel mit Minderwertigkeitskomplexen zu tun“, sagt er, „die übermäßige Ansiedlung von Uni-Gebäuden verändert unsere Stadt nicht zum Vorteil.“ Um dann aber zu gestehen: „Ich bin in mein Siegerland verliebt und ich habe Angst, ob ich die bevorstehende Umstellung schaffe.“