Siegen. Wo Siegens eigentliche Altstadt war – und warum die Oberstadt überhaupt bebaut worden ist, steht im neuen Jahrbuch der Siegener Geschichtwerkstatt.

Dass die Stadt Siegen im nächsten Jahr, 2024, ihre 800-Jahrfeier begeht, hatte Leander Wilhelm Kühn gar nicht im Sinn, als er 2020 seine Bachelor-Arbeit am geowissenschaftlichen Steinmann-Institut der Universität in Bonn vorlegte. Der Titel („Archäometrische Untersuchung des Bodenmosaiks der Martinikirche zu Siegen unter Anwendung der Rehydroxilations-Datierung“) klingt speziell. Das Ergebnis auch: dass nämlich spätestens 1170, womöglich auch schon 1095, die erste Martinikirche abgebrannt und durch einen fünftürmigen Neubau ersetzt wurde. Mit seiner erneuten Untersuchung von Ausgrabungen der 1950er, 1960er und 1970er Jahre führt Leander Wilhelm Kühn aber weit zurück in das Siegen, das es vor 1224 gab. In der Urkunde, mit der alle 50 Jahre Stadtjubiläum gefeiert wird, ist schließlich von der „oppidi Sige de novo constructi“ die Rede, also von der neu erbauten Stadt.

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Siegens „Aldestat“

Der Geowissenschaftler berichtet in seinem Aufsatz, mit dem das neue, 27. Jahrbuch für regionale Geschichte beginnt, das die Siegener Geschichtswerkstatt herausgibt, über eine Zeit, „wo man die Oberstadt noch nicht Altstadt genannt hat“. Denn das alte, wohl sehr kleine Siegen, drängte sich auf dem Felssporn um die Martinikirche, oberhalb des Zusammenflusses von Sieg und Weiß. „Die Grabungen aus den 1960er und 1970er Jahren wurden noch gar nicht vollständig ausgewertet“, erzählt Leander Wilhelm Kühn. Das ist das Schöne an der Archäologie: Jede Generation kann wieder neu hinschauen, mit den Instrumenten, die ihr zur Verfügung stehen. „Die Methode ist neu“, erklärt der Wissenschaftler: In Großbritannien wurde ein Verfahren entwickelt, aus der Einlagerung von Wasser nach der letzten Erhitzung das Alter von Keramik noch genauer festzustellen.

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Rekonstruktion des zweiten Martinikirchenbaus: Fünf Türme lassen auf Reichtum in der echten Altstadt schließen.
Rekonstruktion des zweiten Martinikirchenbaus: Fünf Türme lassen auf Reichtum in der echten Altstadt schließen. © Leander Kühn | Leander Kühn

Leander Wilhelm Kühn fügt die neu gewonnenen Puzzlesteine in das Mosaik der frühen Siegener Geschichte ein. Danach wird sich die Siedlung von dem zu eng gewordenen Felssporn Richtung Süden ausgebreitet haben, über die Weiß bis zum Fuß des Häuslings. Die Menschen werden dort die Kraft des Wassers genutzt und Hütten und Schmieden betrieben haben. Einen archäologischen Nachweis für eine Hütte an der Weiß gibt es war bisher nicht. Wohl aber Dokumente über eine St. Johannes-Kapelle am Häusling und über die europaweite Bekanntheit Siegerländer Schmiedewaren. Das alte Siegen muss ziemlich wohlhabend gewesen sein. Darauf deuten auch die im 12. Jahrhundert geprägten Münzen („Hälblinge“ und „Pfennige“), auf denen bereits die neue, fünftürmige Martinikirche abgebildet ist.

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Die Martinikirche als ältestes Bauwerk Siegens – die erste Burgkapelle wurde vermutlich im achten Jahrhundert errichtet – wurde nicht der Nabel der neuen Stadt. Im Gegenteil: Schon 1311 wurde sie als „ecclesia extra muros“, also als Kirche außerhalb der Stadtmauer, bezeichnet. Die verlief zunächst mitten über den Hof des späteren Unteren Schlosses. Jenseits davon hat der von der Mainzer Erzbischöfen eingesetzte Vogt mit seinem Grundbesitz sozusagen ein Geschäft auf eigene Rechnung gemacht: Rund um die Martinikirche war er nur Beamter des Bischofs, „hier oben auf dem Siegberg war er aber Herr im Haus“, berichtet Leander Wilhelm Kühn. Dort, rund um die Nikolaikirche als spätere Siegener Pfarrkirche, entstand die neue Stadt, nachdem im 13. Jahrhundert durch eine Feuersbrunst (Kühn: „der früheste nachweisbare Flächenbrand“) viele Gebäude südlich der Weiß zerstört worden waren. „Der Altstadt wurde das Wasser abgegraben.“ Wobei der Wohlstand der Bürger rund um das Krönchen – das allerdings erst 1658 auf den Turm der Nikolaikirche gesetzt wurde – wohl auch von den Schmieden, Gerbern und Färbern genährt wurde, die weiter unten am Wasser arbeiteten.

Die Martinikirche verlor an Bedeutung und drohte zeitweise sogar zu verfallen. Als Wilhelm der Reiche, der im 16. Jahrhundert regierte, die Stadtmauer erweitern ließ, wurden die letzten Häuser der „Aldestat“ mit 36 Feuerstellen abgerissen. Die Wiese südlich der Kirche war einst Friedhof. Es gibt noch viel zu erforschen im ganz alten Siegen, sagt Leander Wilhelm Kühn: Gerade im Bereich Obergraben und Häutebach seien „Argusaugen geboten, wenn die Uni ihre Pläne umsetzt.“ Kühn selbst wendet seine Aufmerksamkeit einem Thema jenseits von Siegen zu: Seine Masterarbeit hat einen geo-montanarchäologischen Schwerpunkt zum Bergbau im Siegerland.

Das Untere Schloss

Wer in der Nähe des alten Siegen bleiben will: Jens Friedhoff hat in seinem Aufsatz für das Jahrbuch der Geschichtswerkstatt die Baugeschichte des Unteren Schloss aufgeschrieben. Der ehemalige, aus einem Franziskanerkloster hervorgegangene Nassauische Hof wurde unter Fürst Johann-Moritz 1648 bis 1671 zur Residenz der evangelischen Linie von Nassau-Siegen ausgebaut und nach dem Stadtbrand von 1695 wiederaufgebaut. Nach dem Aussterben der reformierten Linie wurde es Witwensitz und ansonsten vielfältig genutzt, unter anderem durch die Post, als Lazarett, als Tabak-und Salzmagazin, als Schule und Wohnung für den Landrat.

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So zeichnet Wilhelm Scheiner das Untere Schloss um 1720. „Judengasse“ wird der zweigeschossige Fachwerkbau (links im Bild).
So zeichnet Wilhelm Scheiner das Untere Schloss um 1720. „Judengasse“ wird der zweigeschossige Fachwerkbau (links im Bild). © Siegerlandmuseum, Inv.Nr, S 135 | Siegerlandmuseum, Inv.Nr, S 135

Die Judengasse

Der Judengasse, einem Seitentrakt des Wittgensteiner Flügels, widmet Christian Brachthäuser, Bibliotheksassistent des Stadtarchivs, einen eigenen Beitrag. Bei den Bauarbeiten der Universität („Campus Unteres Schloss“) waren vermeintliche jüdische Siedlungsspuren aus dem Mittelalter gefunden worden. Tatsächlich dürften dort erst nach 1726 wieder geduldete jüdische Hoflieferanten Quartier genommen haben. Bedeutung gewann der zweigeschossige Fachwerkbau in der Zeit der französischen Besatzung von 1807 bis 1813, als dort eine Druckerei und ein Buchverlag auch erste Presserzeugnisse („Intelligenzblatt für das Großherzogtum Berg“, „Gemeinnütziges und unterhaltendes Wochenblatt für Leser aus allen Ständen“, „Neue Intelligenz-Nachrichten für das Sieg-Departement“) herausgab. 1825 wurde die „Judengasse“ abgerissen.

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Mit dem Siegen-Schwerpunkt der „Siegener Beiträge“ schließt sich übrigens kurz vor der 800-Jahrfeier ein Kreis: Das erste Jahrbuch, das 1996 erschien, hatte ebenfalls das Untere Schloss zum Thema: Damals waren die Archäologen vor Ort, als die Tiefgarage unter dem Schlossplatz gebaut wurde.

Siegener Beiträge, Jahrbuch 27 für regionale Geschichte, 2022. Herausgeber: Geschichtswerkstatt Siegen. Erhältlich im Buchhandel. 20 Euro.

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