Siegen. . Gab es im 15. Jahrhundert eine größere jüdische Ansiedlung in Siegen – oder nicht? Die Experten sind uneins. Beide Seiten haben gute Argumente.
Die einen stützen sich auf Erde. Die anderen auf Papier. Doch während die Archäologen, die derzeit den Wittgensteiner Flügel des Unteren Schlosses untersuchen, aufgrund ihrer Funde die Existenz einer Siegener Judengasse im 15. Jahrhundert als erwiesen ansehen, bleiben einige Historiker äußerst skeptisch. „Wo liegt der Beweis, dass die gefundenen Gegenstände jüdischen Ursprungs sind?“, fragt Stadtarchivar Ludwig Burwitz im Gespräch mit dieser Zeitung.
Er vermisse, dass die Archäologen „die Funde anhand der schriftlichen Quellen überprüfen“. Bei der Entkernung des Wittgensteiner Flügels hatte ein Team um den vom Bau- und Liegenschaftsbetrieb (BLB) beauftragten Dr. Gerard Jentgens unter dem Betonpflaster des ehemaligen JVA-Innenhofs – unerwartet – Mauerreste eines Steinkellers entdeckt. Was da in der Erde schlummerte, darüber gehen allerdings die Meinungen auseinander.
Skepsis
Stadtarchivar Ludwig Burwitz führt ins Feld, „dass der Begriff ,Judengasse’ 1816 auf einer Karte erstmals verwendet wird“. In anderen schriftlichen Quellen seit dem 15. Jahrhundert sei eine solche nicht erwähnt. Außerdem tauchten in anderen Dokumenten auch keine jüdischen Namen auf, die auf eine nennenswerte jüdische Ansiedlung schließen ließen. Bekannt sei hingegen, dass ein „Schutzjude“ namens David Joseph vermutlich ein Warenlager im Wittgensteiner Flügel gehabt habe. Wegen dieses Mannes sei in Siegen im frühen 19. Jahrhundert vielleicht von einer „Judengasse“ gesprochen worden. „Das ist zumindest mein Schluss“, sagt Burwitz und begründet: „Wir sollten erst einmal das Naheliegende vermuten, wenn wir keine schriftlichen Belege haben.“
Zuversicht
Auf das Naheliegende beruft sich auch Dr. Gerard Jentgens – nur von einer anderen Warte aus. Ein „Schweigen der Quellen“ sei kein sicherer Anhaltspunkt, um Thesen zu verwerfen. „Es ist oft so, dass man Überliefertes aufgrund von archäologischen Funden revidiert.“ Zwar habe sein Team „kein spezifisch jüdisches Fundmaterial“ entdeckt, „aber eindeutig eine Bauzeile gefunden“ – und das an eben jener Stelle, wo in einem alten Plan eine „Judengasse“ eingezeichnet sei. In diesem Fall sei „Übertragung das Naheliegende“. Zudem ließen die bekannten Quellen unterschiedliche Interpretationen zu, was Belege für jüdisches Leben in Siegen im Mittelalter angehe.
Und nun?
„Schrecklich“ findet Jentgens an der Diskussion nichts. Im Gegenteil: „Das ist ein wissenschaftlicher Diskurs, der geführt werden muss. Wir freuen uns sehr, wenn etwas in Bewegung gerät.“ Meinungsverschiedenheiten dieser Art zwischen Archäologen und Historikern seien nicht ungewöhnlich: „Archäologie ist oft der Nadelstich, der Historiker dazu bringt, noch einmal neu nachzudenken.“
Ludwig Burwitz signalisiert Offenheit, bleibt aber skeptisch. Über gesicherte Erkenntnisse zur Existenz der Judengasse „würde ich mich wirklich freuen“, betont der Archivar. „Es wäre ein absolutes Highlight für die Stadtgeschichte, wenn wir das wasserdicht beweisen könnten.“
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