Siegen. Mit der Hindenburg- und der Lothar-Irle-Straße werden die Siegener noch eine Weile leben müssen – aber wohl doch nicht bis zum Nikolaustag.

Die Neubenennung der Straßen mit nationalsozialistisch und/oder antisemitisch belasteten Namen sollte auf die ganz lange Bank geschoben worden. Der Kulturausschuss hat das Thema von seiner Tagesordnung abgesetzt, nachdem die Verwaltung in die Hauptsatzung geschaut hat: Danach müssen die Bezirksausschüsse gehört werden, bevor die Entscheidung fällt – und die tagen selten: der Bezirksausschussmitte, zuständig für die Hindenburgstraße, am 7. September. Der Bezirksausschuss Ost, zuständig für die Lothar-Irle-Straße, am 16. November. Und der Bezirksausschuss Eiserfeld, zuständig für die Bergfriederstraße, am 23. November. Die Entscheidung im Hauptausschuss könnte demnach am 6. Dezember fallen, der Kulturausschuss könnte vorher am 8. August ein Votum abgeben.

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„Es schreit keiner danach, dass das schnell umgesetzt wird“, meinte Stadtrat Arne Fries, „aus meiner Sicht besteht keine Eilbedürftigkeit.“ „Es kommt nicht mehr drauf an“, gestand Traute Fries (SPD) zu – immerhin sei der Arbeitskreis zur Neubenennung von Straßen erstmals schon 2008 gebildet worden. Erik Dietrich (Volt) fragte trotzdem, ob das Verfahren nicht durch eine gemeinsame Sitzung aller beteiligten Ausschüsse abgekürzt werden könne. Und Isabelle Schmidt (CDU) brachte die Möglichkeit ins Spiel, dass der Rat das Thema an sich ziehen könnte – so wie erst in der vorigen Woche, als er ohne vorherige Beratung der Ausschüsse die Graf-Luckner-Straße in Edith-Langner-Straße umbenannt hatte. Kulturausschussvorsitzende Eva Biawolons-Sting (GfS) äußerte allerdings Zweifel, ob dieser kurze Prozess Bestand haben wird: „Ich habe schon Stimmen gehört, die klagen wollen.“

Nach der Sitzung haben Politik und Verwaltung dann aber anscheinend doch aufs Tempo gedrückt: Die Verwaltung werde in den nächsten Tagen in Absprache mit den Vorsitzenden „insbesondere der Bezirksausschüsse“ Sondersitzungen organisieren, hieß es am Donnerstag aus dem Rathaus.

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„Habt ihr an den Aufwand für die alten Leute gedacht?“, fragte Maria Magdalena Müller (Seniorenbeirat). „Das ist kein großes Problem“, antwortete Angela Jung (Grüne). Ein Nachsendeantrag bei der Post müsse nicht gestellt werden, bei der Information über die neue Anschrift „hilft vielleicht auch ein bisschen die Familie“ – „meine Frau ist genauso alt wie ich“, kam daraufhin der Ruf von der Zuschauertribüne des Geisweider Ratsaals. Stadtrat Arne Fries betonte, dass die Stadt für neue Papiere, zum Beispiel Ausweis und Reisepass, keine Gebühren erhebe. Sibylle Schwarz (SPD) regte an, darüber auch im Seniorenbeirat zu informieren.

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Das ist der Stand der Umbenennungen

Im Juni 2020 hatte der Rat den jetzt amtierenden Arbeitskreis eingesetzt, der sich mit insgesamt 23 „kritischen“ Personen befasst hat, nach denen in Siegen Straßen benannt sind. 2022 wurde der Abschlussbericht vorgelegt. Sieben Straßen wurden in die Kategorie A eingestuft, also zur Umbenennung empfohlen. Ihren Namen behalten, aber ein Erläuterungsschild bekommen sollen die Straßen der Kategorie B: Adolf‐Saenger‐Straße, Carl‐Dresler‐Straße, Dr. h.c.Karl-Barichstraße, Hans‐Kruse‐Straße, Otto‐Krasa‐Weg, Ostlandstraße und Tannenbergstraße. Von Kategorie A nach B umgestuft wurde in diesem Jahr die Adolf-Wagner-Straße. Von C („unbelastet oder nur minderschwer belastet“) nach A kam im Laufe der Beratung die Graf-Luckner-Straße.

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Diemstraße: Carl Diem, NS-Sportfunktionär, später Referent im Bundesinnenministerium. Der Rat hatte die Entscheidung am 19. Oktober 2022 zurückgestellt und den Arbeitskreis um eine neue Stellungnahme gebeten. Der Arbeitskreis blieb bei seiner Empfehlung, der Rat beschloss am 22. März die Umbenennung.

Porschestraße: Ferdinand Porsche, Wehrwirtschaftsführer, SS-Oberführer ehrenhalber, „KZ Arbeitsdorf“ für den Autobau, „Ausländerkinder-Pflegestätte“. Wie Diemstraße, Umbenennnung beschlossen.

Graf-Luckner-Straße: Felix Graf Luckner, Marineoffizier, sexueller Missbrauch von Kindern. Im März vom Arbeitskreis nachträglich zur Umbenennung empfohlen, vom Rat sofort beschlossen. Bis 1975: Hindenburgstraße. Neu: Edith-Langner-Straße, CDU-Landtagsabgeordnete von 1966 bis 1975.

Hindenburgstraße: Paul von Hindenburg, Weltkriegsgeneral, letzter Reichspräsident, Wegbereiter der Machtübernahme durch Hitlers NSDAP. Umbenennung vom Rat am 19. Oktober 2022 beschlossen. Dem Kulturausschuss liegt der Antrag von CDU, SPD, Grünen, Linken und Volt vor, den neuen Namen „Europastraße“ festzusetzen. Dagegen steht der Antrag der FDP: „Straße des Grundgesetzes“ – „die Stadt Siegen wäre damit ein bundesdeutscher Vorreiter“, heißt es in der Begründung. Die Hindenburgbrücke soll „Luba-Brücke“ heißen, schlägt dien FDP vor. Luba Budischewska ist als Kind 1945 in einem Zwangsarbeiterlager in Siegen umgekommen.

Lothar-Irle-Straße: NS-Lehrerfunktionär, nach dem 2. Weltkrieg vom Lehrerberuf ausgeschlossen, Volks- und Heimatkundler. Umbenennung vom Rat am 19. Oktober 2022 beschlossen. Die Neubenennung wurde am Mittwoch von der Tagesordnung abgesetzt, die Entscheidung fällt im Dezember. Neuer Name nach Antrag der fünf Fraktionen: „Am Breitenbach“ nach dem unter der Straße verlaufenden Gewässer.

Bergfriederstraße: Jakob Henrich, Lehrer, Heimatdichter, antisemitischer Hetzer. Umbenennung vom Rat am 19. Oktober 2022 beschlossen. Die Neubenennung wurde am Mittwoch von der Tagesordnung abgesetzt, die Entscheidung fällt im Dezember. Neuer Name nach Antrag der fünf Fraktionen: „Auf dem Heuper“, Eiserner Flurbezeichnung, Abzweig von der Heuperstraße.

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