Siegen. Die Gesellschaft Erholung gab’s schon, bevor Turnvereine gegründet wurden. In Wirklichkeit ist sie sogar noch älter. Das ist ihre Geschichte.

Die „Gesellschaft Erholung“ besteht seit 1848. Ältere Vereinigungen in der Region sind nicht bekannt, denn Turn- und Gesangsvereine wurden erst später gegründet. Bei Lichte betrachtet ist die Gesellschaft Erholung sogar noch deutlich älter. Denn schon ab 1813 gab es in Siegen den Verein „Harmonie“, in dem sich Bürger abends trafen, um Zeitschriften zu lesen, darüber zu diskutieren, gemeinsam zu essen, Pfeifchen zu rauchen und Wein zu trinken, also nach den Mühen des Tages einfach nur zu entspannen. Es waren Männer aus „gehobenen Schichten“, natürlich ohne ihre Frauen. Doch so harmonisch, wie es die Namensgebung versprach, scheint es in der „Harmonie“ nicht zugegangen zu sein. Am 25. Dez 1842, also genau am 1. Weihnachten, löste sich der Verein auf. „Wegen unüberbrückbarer Streitereien“, wie Michael Wahl, Mitglied des aktuellen Vorstandes der Gesellschaft Erholung, durch das Studium alter Protokolle herausgefunden hat.

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Die „Gesellschaft Erholung zu Siegen“ wurde fast genau 5 Jahre später, am ersten Tag des Jahres 1848, gegründet. Einem Jahr, das in Deutschland durch die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche als Gründungsjahr der Demokratie gilt. Die Mitglieder der Gesellschaft Erholung: Kaufmänner, Fabrikanten, Ärzte, Apotheker, hohe Beamte – mit zwei Worten: „Gehobenes Bürgertum“, ähnlich wie 30 Jahre zuvor in der „Harmonie“.

In vielen Städten

Eine „Gesellschaft Harmonie“ gibt es noch in Bochum. 1817 gegründet, hat sie ihren Sitz im gleichnamigen Restaurant.

Die „Gesellschaft Erholung“ ist nach wie vor in vielen Städten aktiv: Neuss, Aachen, Bottrop, Altena, … – und in Hilchenbach. Dort wurde sie 1849 gegründet, kann also im nächsten Jahr das 175. Bestehen feiern.

Die Mitgliedschaft kostet jährlich 120 Euro.

Eine Aufnahme in diesen erlauchten Kreis war nur durch Bürgen möglich. Damals eine reine Männergesellschaft. Frauen waren nur dabei, wenn sie „mitgenommen“ wurden, vor allem zu Tanzveranstaltungen, die damals noch ein Schwerpunkt der Vereinsaktivitäten waren. Teilweise gab es sogar eine Gesangsabteilung „Liedertafel“, man spielte Theater, kegelte. Und bei vielen Veranstaltungen wie Sommerfesten oder Ausflügen waren auch Kinder willkommen.

Die Villa der Gesellschaft Erholung am Obergraben wurde am 16. Dezember 1944 zerbombt.
Die Villa der Gesellschaft Erholung am Obergraben wurde am 16. Dezember 1944 zerbombt. © Gesellschaft Erholung | Gesellschaft Erholung

In all den vielen Jahren des Bestehens hatte die Gesellschaft Erholung drei Domizile: Zunächst ein Haus am Ende der Burgstraße, kurz vor dem Torbogen zum Oberen Schloss. Danach ab 1875 eine stolz-pompöse Villa am Obergraben, die, durch Anteilsscheine finanziert, Eigentum der Gesellschaft war und beim großen Bombenangriff auf die Stadt Siegen am 16. Dezember 1944 völlig zerstört wurde.

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Da ein Wiederaufbau aus finanziellen Gründen unmöglich war, verkaufte der Verein das Grundstück und finanzierte 1954 gemeinsam mit der Siegerländer Wirtschaft das HDW an der Spandauer Straße, das bis heute die Heimat der Gesellschaft Erholung ist. Jedoch nicht mehr als Miteigentümer, denn die gründliche Renovierung des HDW in den 1970er Jahren hätten die Mitglieder finanziell nicht stemmen können.

Eine Legende: Der Weinkeller

Was allen Domizilen gemeinsam war: Der Weinkeller. Auch ein Symbol der Besonderheit der Gesellschaft Erholung, da das Siegerland ja eher ein Bierland ist. Ob in der Burgstraße, der Villa oder im HDW: Der Weinkeller war legendär. Man kaufte die Weine bei Winzern sogar fassweise, lagerte sie, füllte sie ab, betrieb einen Weinhandel oder – noch besser – trank sie bei den vielen gesellschaftlichen Anlässen selbst.

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Im Vereinsvorstand gab es über Jahrzehnte das Amt „Kellereiverwalter“, das etwa solche stadtbekannte Größen wie Rudolf Lixfeld oder Rolf Münnich innehatten. Doch seit etwas mehr als 10 Jahren ist der Weinkeller Vergangenheit. Michael Wahl: „Er hat sich nicht mehr gerechnet, war sogar Minusgeschäft“. Klar, dass vor allem langjährige Mitglieder diesen Beschluss heftig betrauerten.

Mit der Zeit gehen

Vieles hat sich im Laufe der Zeit verändert. Statt der früher einmal um die 200 hat die Gesellschaft Erholung gegenwärtig etwa 100 Mitglieder. „Das Honorationen-Gehabe des letzten Jahrtausends ist Vergangenheit. Heute werden Frauen sehr gerne aufgenommen. Oft sind bei Ehepaaren beide Mitglied“, sagt Michael Wahl, „wir haben uns geöffnet, modernisiert, um auch für Jüngere attraktiver zu werden“. Das beste Beispiel ist er selbst, der als Dozent für Ingenieurwissenschaften an der Siegener Uni arbeitet und eine Professur an der indischen Universität Kirala hat.

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In der Gesellschaft Erholung ist er Veranstaltungsleiter. Er organisiert die jährlich wiederkehrenden Veranstaltungen: Das Frühlingsfest, Spargelessen, Gans- und das vorweihnachtliche Bratapfelessen. Alles Ereignisse, die im HDW stattfinden. Und weiblicher geworden ist der Vorstand auch: Johanna Schirmacher, freiberufliche Kulturjournalistin und Lebensgefährtin von Michael Wahl, bekleidet seit Oktober 2022 das Amt der Schriftführerin. „Ich wollte auch einmal hinter die Kulissen eines Vereins schauen“, sagt sie.

Das Emblem gibt es von Anfang an
Das Emblem gibt es von Anfang an © Wolfgang Leipold | Wolfgang Leipold

Neben den vier festen Zusammenkünften wird den Mitgliedern Vielfältiges geboten. Informative Vorträge, Besichtigungen von Betrieben, Besuche der Weilburger Schlosskonzerte, Ausflüge. Und natürlich im September diesen Jahres als besonderer Höhepunkt die Jubiläumsgala zum 175. Geburtstag im Haus der Siegerländer Wirtschaft. Bei allem Wandel im Laufe der Jahrzehnte ist das Leitmotiv aus der Satzung der Gründungsjahre geblieben: Der Wunsch, „in angenehmer Gesellschaft die Freuden des geselligen Umgangs oft und rein zu genießen“.

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