Siegen. Das Haus seiner Tanten hat Bernd Becher zum Fachwerk-Thema gebracht. Sein Schüler Laurenz Berges hat dort gearbeitet – und fotografiert.

Seit zwanzig nach fünf steht die Zeit still. Das Pendel der Uhr schlägt nicht mehr, das Transistorradio schweigt sich aus, das Telefon bleibt stumm, unvollendet das Puzzle auf dem Tisch. Die Menschen des Hauses sind nicht mehr. Zuletzt waren es zwei: die Schwestern Berta und Maria, fromme Fräulein, die viel zum Leben nicht brauchten, vielleicht weil sie ihren Schatz im Himmel wussten. Geblieben ist ihr Haus mit dem fürs Siegerland einst so typisch klarem schwarz-weißen Gefache, geblieben ist auch das Interieur in den geduckten Zimmerchen, eher sparsam möbliert, an den Wänden kaum geschmückt und wenn, dann mit Familien- oder Heiligenbildern, mit Krückstock oder Kruzifix.

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Das Elternhaus: Lost Place und „mühsame Installation“

In dieser schnörkellosen Welt fühlte sich Bernd Becher, der später gemeinsam mit Ehefrau Hilla weltberühmte Fotograf, gut aufgehoben. 1931 in Siegen als Sohn eines Kunstmalers geboren, zog es ihn vor die siegabwärts gelegenen Tore der Stadt, nach Mudersbach und damit in die Nähe seiner Großeltern und der beiden Tanten. Dieses „Becherhaus“ inspirierte ihn wesentlich, was seine spätere Auseinandersetzung mit den Fachwerkhäusern der Siegerländer Montanregion anging; eben hier findet sich ein Anfang, der ein Ende nicht hat. Denn als die beiden Tanten verstarben, ließ Bernd Becher sein zweites Zuhause unberührt. Dieses Prinzip hat nach dem Tod der Eltern Sohn Max Becher als „mühsame Installation“ übernommen. Das Haus in Mudersbach bleibt, was und auch wie es ist, es wird in jenem Zustand instandgehalten, in dem es verlassen wurde, ist beides: „lost place“ und Erinnerungsstätte. Es erzählt seine Geschichte, vermittelt, was gewesen ist, und steht doch mittendrin in der Gegenwart – wie der Blick aus dem Fenster zum kahlgeschorenen Windhahn zeigt.

Zur Person

Laurenz Berges, 1966 in Cloppenburg geboren, lebt und arbeitet in Düsseldorf. Er studierte Kommunikationsdesign an der Universität Essen und künstlerische Fotografie in der Klasse von Bernd Becher an der Kunstakademie Düsseldorf. 1988/89 assistierte er der deutsch-amerikanischen Fotografin Evelyn Hofer in New York. Berges hat an zahlreichen nationalen und internationalen Gruppenausstellungen teilgenommen, unter anderem Museum of Modern Art in New York, der Pinakothek der Moderne München oder der SK Stiftung Kultur, Köln. Eine Einzelausstellung präsentierte er zuletzt im Josef Albers Museum Quadrat Bottrop (2020).

Serie: Becherhaus in Mudersbach 2018-2022

Der Düsseldorfer Fotograf Laurenz Berges, ein Schüler Bernd Bechers, hatte vier Jahre lang das Privileg, wieder und wieder in Bechers Haus zu arbeiten. In aller Stille, bei Tag und bei Nacht, zu unterschiedlichen Jahreszeiten und mit genügend Zeit, sehr behutsam das zu erfassen, was vielleicht die Seele dieses Sinn-Bildes für Heimat ausmacht. Übrigens auch eine gewisse Ambivalenz, denn für ein paar Jahre lebten nicht nur das „Nähmädchen“ Maria und die einstige Rotkreuzschwester Berta unter dem geschieferten Dach, sondern auch Hilla Bechers aus Potsdam zugezogene Mutter – und die brachte mit ihrem Mobiliar einen großbürgerlichen Kontrapunkt in die karge Behaglichkeit.

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Seine Serie „Das Becherhaus in Mudersbach, 2018-2022“ bekommt nun im Museum für Gegenwartskunst Siegen einen angemessenen Rahmen: viel Raum für einen sehr bewusst aufs Detail und auf Stimmungen gerichteten Blick, für eine Haltung abseits des Voyeurismus, sondern vielmehr des respektvollen Interesses, für poetische Bildkompositionen, die mit Licht und Schatten arbeiten, mal mit der perspektivisch-dokumentarischen Draufsicht, oft mit besonderem Augenmerk auf vorgegebene Begrenzungen – wie die Tür, das Fenster und dessen Rahmen, die Zimmerecke, die Schublade.

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Bernd Bechers Rätselhefte – und bunte Knallbonbons

Ähnlich vorgegangen ist Laurenz Berges, der rein analog, mit einer Großbildkamera arbeitet, bei seiner fotografischen Expedition ins Atelierhaus von Bernd und Hilla Becher am Kaiserswerther Mühlenkamp oder in die wegen des Braunkohleabbaus verlassenen Gebiete um Etzweiler. Auch diese Werkgruppen sind in der Siegener Ausstellung zu sehen, sie ordnen das aktuelle Schaffen des Künstlers ein, den das „Halten und Schwinden“ fasziniert, diese Spannung eines Nicht-Mehr und Immer-Noch.

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Die Aufnahmen aus dem Becherhaus in Mudersbach schärfen auch noch einmal den Blick auf Bernd Becher selbst. Denn die Schau stellt den Fotografen auch als Sammler vor – von Rätselheften und bunten Knallbonbons. Fundsachen, die das strenge Bild der so konsequent geradlinig und systematisch arbeitenden Bechers wie mit einem Weichzeichner schärfen.

Neue Einblicke in Familien- und Regionalgeschichte

Diese neuen Einblicke in die Familien- und Regionalgeschichte, erstmals überhaupt öffentlich ausgestellt, seien ein Glücksfall für das Museum für Gegenwartskunst, sagte der kuratierende Direktor Thomas Thiel beim Presserundgang am Donnerstag. Flankierend zu „Laurenz Berges. Halten und Schwinden“ zeigt sein Haus unter dem Titel „Fotonotizen. Werke aus der Sammlung Gegenwartskunst“ (kuratiert von Lea März) weitere, zum Teil verwandte, zum Teil auch kontrastierende Fotografien unter anderem von Andreas Gursky, Candida Höfer, Simone Nieweg, Peter Piller, August Sander oder Thomas Struth. Es gibt also: viel zu sehen!

Laurenz Berges. Halten und Schwinden“ wird am Freitag, 17. März, 19 Uhr, eröffnet. Am Samstag, 18. März, 14 Uhr, gibt es ein Künstlergespräch. Öffentliche Führungen gibt es jeden Donnerstag um 12.30 Uhr und jeden Sonntag um 16 Uhr. Mehr unter www.mgksiegen.de. Die Ausstellung läuft bis zum 6. August 2023. Seine Werkgruppe „Das Becherhaus in Mudersbach“ hat Laurenz Berges auch in einem Buch dokumentiert. Der bei Schirmer/Mosel erschienene Band beginnt mit einem Essay des auch in Wissen beheimateten Schriftstellers Hanns-Josef Ortheil.

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Fundstücke aus dem Mudersbacher Becherhaus.
Fundstücke aus dem Mudersbacher Becherhaus. © .Museum für Gegenwartskunst Siegen/Philipp Ottendörfer