Hilchenbach. Gerti Holländer und ihr Sohn Lothar waren vor 80 Jahren die letzten Juden, die aus Hilchenbach deportiert wurden. Die Stadt erinnert an 20 Tote.
Der Himmel ist blau, die Fachwerkkulisse des Marktplatzes gibt ihr Bestes, der Feuerwehrchor behauptet sich gegen den Feierabendverkehr: „Die Gedanken sind frei“, singen die Helberhausenerinnen. Eine stattliche Versammlung hat sich am Gedenkstein unterhalb der evangelischen Kirche eingefunden, der an die unter der NS-Gewaltherrschaft ermordeten Hilchenbacher Juden erinnert.
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Ob das Wetter am 28. Februar vor 80 Jahren auch so schön, so kalt war? Ob jemand an die Stolpersteine unten am Markt, vor dem Textilmarkt am Anfang der Unterzeche, denkt, als Olaf Kemper die Meldung aus der Siegerländer Nationalzeitung von 1939 vorliest? Dass zwei kinderreiche Familien in das Haus der Familie Stern eingezogen sind, „Maurer, Schreiner und Anstreicher eifrig am Werk sind, aus dem Judenhaus ein sauberes deutsches Haus zu machen“. Und wo am Schluss gefragt wird, „wann verlässt uns der letzte Jude?“
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Gerti Holländer war es, 44 Jahre jung, und ihr zehnjähriger Sohn Lothar, die sich am 28. Februar 1943 auf den Weg machten. Ein Sonntag, wahrscheinlich früh am Morgen. Sie wohnten am Mühlenweg. „Färwersch ob dr Wees“ war der Hausname des Hauses, das ihr Schwiegervater in den 1880er Jahren gekauft hat. „Judenhaus“ nannten es die Nazis. Gerti Holländer und Lothar haben an diesem Sonntag den schönen Hilchenbacher Marktplatz nicht mehr gesehen. Sie sind direkt zum Bahnhof gegangen. Siegen, Dortmund, Auschwitz. Dort wurden sie in der Gaskammer ermordet.
Für immer verstummen
Die beiden stellvertretenden Bürgermeister sprechen an diesem Nachmittag. Olaf Kemper erinnert auch an die anderen Familien: Joseph Holländer und Karl Schäfer, die am 28. April 1942 nach Zamosc gebracht wurden, wahrscheinlich in Sobibor oder Belcec umgebracht. An Röschen Hony, die am 27. Juli 1942 in den Tod fuhr, der sie einen Monat später in Theresienstadt ereilte. Insgesamt 20. Und dann meldet Hilchenbach sich judenfrei.
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Olaf Kemper schlägt den Bogen 80 Jahre weit in die Gegenwart. In ein Deutschland, das sich mit seiner Vergangenheit befasst und meint, es könne sie „bewältigen“. Und in ein Deutschland, in dem Juden wieder um ihr Leben fürchten müssen. „Dieses Deutschland ist ein Land, das Judenhass trotz großer Versprechungen und wortreicher Ausflüchte immer noch viel zu oft einfach geschehen lässt.“ Das Aufgebot an Polizei, die über die Gedenkfeier wacht, scheint stärker zu sein als noch vor einigen Jahren. Das kann aber auch täuschen – man wird empfindlich in Hilchenbach, besonders da, wo die Dammstraße 5 mit ihren rechten Provokateuren nicht weit ist.
„Rassismus und Ausgrenzung dürfen in unserer Gesellschaft und in unserer Stadt keinen fruchtbaren Boden finden“, fordert Jan Oliver Thomas. Er spricht über das Erinnern, über die Menschen, die selbst erzählen können, noch. „Wir müssen die Zeit nutzen. Denn die Zeitzeuginnen und -zeugen werden von Jahr zu Jahr weniger. Es liegt also auch an uns, deren Stimme, deren Eindrücke und Erinnerungen zu konservieren und möglichst in die Welt hinauszutragen, bevor diese Stimmen für immer verstummen.“ Jan Oliver Thomas blickt auf das Fachwerkidyll, das schon lange vor dem Morden Kulisse von Aufmärschen der Nazis gewesen ist. „Es ist nun mal nicht selbstverständlich, wie wir heute leben.“ Und dann sagt er, dass er stolz sei auf das Hilchenbach von heute, auf die Menschen, die erinnern, mit dem Gedenkstein, den Stolpersteinen, den Jugendfahrten zu den Gedenkstätten, auf den Rat, der gerade einstimmig eine Gerti-Holländer-Straße beschlossen hat.
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Am Gedenkstein liegen ein Kranz und das Gebinde mit den Stadtfarben. Obendrauf gelegt hat jemand schon vorher einen kleinen Stein, jüdischer Brauch für die Erinnerung an einen Verstorbenen. Olaf Kemper wirbt für den bevorstehenden Jugendaustausch mit Israel. Der kleine Lothar von damals hätte in diesem Jahr am 3. September seinen 93. Geburtstag feiern können. Und dann ist Schweigen.
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