Netphen. Michael Schoppe ist 1977 etwa 50 Mal von seinem katholischen Pfarrer missbraucht worden. Damit konfrontiert er seine ehemalige Gemeinde.
„Es ist so still, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte.“ Jutta Tacke, die vom Erzbistum Paderborn für diesen Abend als Moderatorin ins Forum des Gymnasiums Netphen geschickt worden ist, ist studierte Sozialpädagogin, Beraterin und Coach. Die rund 70 Anwesenden, darunter auch Pfarrer Werner Wegener und Vikar Patrick Kaesberg, werden von Michael Schoppe erfahren, wie er 1977 vom damaligen Pfarrer der St. Martin-Gemeinde sexuell missbraucht worden ist.
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„Netpher Modell“ für Aufarbeitung im Erzbistum Paderborn
Es ist das erste Mal, dass das Erzbistum mit einem Opfer an die Öffentlichkeit geht. Thomas Wendland, Interventionsbeauftragter des Erzbistums, wird am Ende des Gesprächs von einem „Netpher Modell“ sprechen, das auf andere Gemeinden übertragen werden könnte. 125 Opfer waren der Betroffenenvertretung namentlich bekannt, als sie Ende 2021 zum ersten Mal zusammenkam, sagt Reinhold Hanisch, einer ihrer Sprecher. Er schätzt, dass es 300 bis 350 sind, wenn das Forschungsteam der Universität Paderborn demnächst seine Missbrauchsstudie vorlegt.
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Schweigen in Netphen: Michael Schoppe sagt noch „Kaufhof“, wenn er Krönchen-Center in der Oberstadt meint. Er kennt sich aus in Siegen, erzählt er beim Redaktionsbesuch. Nicht zum ersten Mal ist er wieder hier, seit er nach jahrzehntelangem Schweigen und Leiden die Auseinandersetzung mit der Kirche aufgenommen hat. Zuletzt kurz vor Weihnachten, nach einer Reihe von E-Mails und Telefonaten mit dem Netpherländer Pastoralverbund: „Die verweisen immer auf das Erzbistum.“ Auch im Dezember habe der Pfarrrer keine Zeit für ihn gehabt. Nur Bruno Glomski, der Missbrauchsbeauftragte der Gemeinde. „Ich war das erste Opfer, mit dem er zu tun hatte.“ Dann macht Michael Schoppe seine Geschichte öffentlich: „Für mich war das der letzte Aufschrei.“
„Ich konnte nicht drüber reden“
Aus den endlich auch in Netphen bekannten Schilderungen, die Michael Schoppe an diesem Abend nicht wiederholt, entstehen Bilder im Kopf: wie der Junge, der eine schwierige Familiengeschichte hat und hier bei der Großmutter aufwächst, die Zuwendung des Pfarrers erfährt, gelegentlich im Pfarrhaus mit am Mittagstisch sitzt, wie es zu dem kommt, was die Kirche unter dem Begriff „Grenzverletzungen“ zusammenfasst: unangemessene Annäherungen, die sich später zu Übergriffen und schließlich zu sexuellem Missbrauch erweitern. Das Pfarrhaus und die Kapelle auf dem Kreuzberg werden zu Tatorten.
„Ich habe es immer gut versteckt, ich konnte nicht drüber reden“, sagt der heute 55-Jährige und erzählt von der Angst, dass andere „es“ ihm anmerken könnten – als ob er selbst schuld an dem an ihm begangenen Verbrechen wäre, für das er sich mit immer heftigeren Selbstverletzungen bestraft. Heinrich Maiworm, Vorsitzender der gerade als Verein fest formierten Betroffenenvertretung, spricht über die Ausgrenzung, die die Opfer erfahren, und die so lange ausgebliebene Anerkennung ihres Leids. Seine Eltern hätten in Olpe nie öffentlich machen dürfen, dass ihr Sohn am bischöflichen Knabenkonvikt in Attendorn von einem Präfekten missbraucht worden sei. „Die wären aus der Stadt gejagt worden.“ Der Präfekt war dann aber dennoch schnell aus dem Dienst entfernt worden.
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„Es ging darum, das System zu schützen“
So war das in den 1960er Jahren, so ist das wohl bis in die Gegenwart hinein gewesen: „Es ging darum, das System zu schützen“, berichtet Thomas Wendland, der das vierköpfige Interventionsteam leitet, das in Paderborn dem Generalvikar zugeordnet ist. Eingegriffen wurde da, wo ein Geistlicher oder andere kirchliche Bedienstete weiter Schaden anrichten konnten – bereits verstorbene Täter standen da nicht im Fokus, ihre Opfer noch weniger. Die bekommen jetzt Geldleistungen, wenn ihre „Anträge auf Anerkennung des Leids“ – so die Überschrift auf dem Formular – als plausibel bestätigt sind. Und sie brauchten Therapie. „Das ist eine Not in Deutschland“, sagt Traumapädagogin Ute Bachmann und berichtet über den allgemeinen Mangel an Therapieplätzen. Mit den Stichworten Missbrauch, katholische Kirche, Borderline und Selbstverletzung „haben Sie gleich gar keine Chance“, sagt Michael Schoppe Thomas Wendland bestätigt: Für Männer gibt es keine Beratungsstellen – zwei Drittel der Betroffenen von Missbrauch in der katholischen Kirche seien aber männlich. „Man sucht wirklich vergebens.“
Sexueller Missbrauch als „Arbeitsunfall“?
„Arbeitsunfall Missbrauch“: Michael Schoppe ist nicht allein ins Siegerland gekommen. An seiner Seite ist Christian Morgner. Den Berufsbetreuer und Verfahrenspfleger hat Michael Schoppe sich zur Unterstützung an seine Seite geholt. Das Amtsgericht hat Morgner zu seinem Betreuer in Angelegenheiten der katholischen Kirche bestellt. Bundesweit sei er da wohl der einzige mit einem solchen Betreuungsauftrag, glaubt Christian Morgner. Michael Schoppe weiß, dass das Erzbistum die zuständige Berufsgenossenschaft eingeschaltet hat: Er könnte anstelle der jetzigen Erwerbsminderungsrente die höhere Berufsunfähigkeitsrente beziehen, wenn der sexuelle Missbrauch als „Arbeitsunfall“ anerkannt wird, Die Voraussetzung erfüllt Michael Schoppe: Er stand als Ministrant im kirchlichen Dienst.
Ganz und gar nicht alle im Forum des Netphener Gymnasiums – ein bewusst gewählter neutraler Ort – fallen aus den Wolken. Die eine und der andere haben über Jahre immer wieder darüber gehört, dass Männer der Kirche sich an Mädchen und Jungen vergehen, im einen Dorf der Vikar, im anderen der Pfarrer. Man erzählt sich von dem Lehrer, der von der katholischen Grundschule wegversetzt wurde, als er einen Fall aktenkundig zu machen versuchte. Und von dem Ehepaar, das alt darüber geworden ist, bis die Frau erfuhr, dass ihr Mann als Junge missbraucht wurde – was auf einmal viel erklärt, was im Eheleben belastend wirkte.
Viele Fragen bleiben ungestellt
„Vermeiden Sie persönliche Angriffe, Unterstellungen, Diffamierungen“, ermahnt Moderatorin Jutta Tacke das Publikum gleich zu Beginn. Der Veranstalter hat sich viele Sorgen gemacht – und umfassend vorgesorgt: Jede Frage an jeden Podiumsteilnehmer ist vorgegeben, und die Fragen aus dem Publikum sind auf Karten notiert, die in einer Pause sortiert werden. Fragen nach Einzelheiten des Missbrauchs wird Michael Schoppe nicht beantworten, Fragen zum Täter werden entweder nicht zugelassen oder erst auf der noch anstehenden Gemeindeversammlung gestellt. Bleiben Fragen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung, zur Information der Gemeinde durch das Erzbistum, zu Bewältigung, Sanktionierung, Aufarbeitung und Prävention.
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Der womöglich – nach entsprechenden Leserbriefen und Telefonanrufen – erwartete Solidaritätssturm für den beschuldigten Pfarrer, der von 1953 bis 1986 in Netphen wirkte und dort 2007 im Alter von 93 Jahren verstarb, findet nicht statt. „Das war jetzt sehr harmonisch hier“, sagt Thomas Wendland am Ende des Gesprächs, in dem der veränderte, öffentlichere und mehr den Betroffenen zugewandte Kurs des Erzbistums mehrfach hoch gelobt wird. Auch das ist für den Interventionsbeauftragten wichtig, der nicht mehr glaubt, seine Aufgabe mit der Bewältigung von Fällen aus der Vergangenheit erfüllen zu können. „Es zeigt sich, dass wir uns dem Thema dauerhaft stellen müssen.“
Das Ende der Sprachlosigkeit
Wünsche? Darüber sprechen lernen – oder gegenüber den Opfern zumindest die eigene Sprach- und Hilflosigkeit zugeben können, sagt Ute Bachmann. „Die Täter müssen wissen, dass darüber geredet wird“, sagt Heinrich Maiworm – das wäre vielleicht auch ein Beitrag zur Prävention. Er werde nicht gefragt, wie es ihm geht, sagt Michael Schoppe. „Die Leute haben Angst vor der Antwort. Ich würde mir wünschen, dass man anders damit umgeht.“ Am Ausgang können die Teilnehmenden einen Beistandsbrief für ihn unterschreiben.
Zur Person
Michael Schoppe wurde 1967 in Plettenberg geboren, er wuchs bei seiner Großmutter in Netphen auf und besuchte die Grundschule in Niedernetphen. 1977 wurde der Ministrant über sieben Monate vom Pfarrer der St. Martin-Gemeinde, der an der Schule auch den Religionsunterricht erteilte, sexuell missbraucht. „Er war für mich rückblickend wohl eher Vaterersatz und das, was meine Oma mir nicht geben konnte“, schreibt Michael Schoppe. „Er war für mich nicht nur eine Respektsperson, sondern ich hatte eine Art familiäres Gefühl zu ihm.“
Die Missbrauchserfahrung führt dazu, dass Michael Schoppe ab der 7. Klasse in der Schule „auffällt“. In der 9.. Klasse verletzt er sich erstmals selbst. 1983/84 ist er für neun Monate in stationärer psychiatrischer Behandlung. „Ich hatte das Gefühl, man sieht es mir an. (…,) Ich wechselte immer dann Beziehungen und Arbeit, wenn man mir zu nahe kam.“ 1996 bekommt Michael Schoppe eine Borderline-Diagnose, 2021 wird in einem Attest eine posttraumatische Belastungsstörung und „latente Suizidalität“ festgestellt.
2015 erhält Michael Schoppe vom Erzbischöflichen Beauftragten für Fälle sexuellen Missbrauchs im Bereich des Erzbistums“ einen Betrag von 6000 Euro „in Anerkennung des Ihnen widerfahrenen Leids“ zuerkannt. 2021 folgte eine Zahlung von weiteren 1000, 2022 von 31.000 Euro. Im Antragsformular „auf Leistungen in Anerkennung des Leids..“ gibt Michael Schoppe auch Antwort auf die Frage nach „Leistungen des Täters“: Fünf Mark je Tat – die der Pfarrer 40 bis 50 Mal bezahlte.
Michael Schoppe lebt heute in Bremen, nach schweren Erkrankungen als Erwerbsunfähigkeitsrentner.
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