Olpe. Heinrich Maiworm aus Olpe wurde als Kind im Erzbischöflichen Konvikt in Attendorn missbraucht. Nach 60 Jahren bricht er jetzt sein Schweigen.
An das, was der Präfekt des Konviktes in Attendorn ihm vor knapp 60 Jahren antat, hat Heinrich Maiworm keine Erinnerung. „Meine Eltern haben gemerkt, dass ein sexueller Missbrauch vorlag“, schildert der Olper. Die Eltern hätten sich dann an den Gemeindepfarrer gewandt. „Und über Nacht war der Erzieher weg. Der wurde geräuschlos versetzt. Man sprach damals nicht über so etwas.“
Auch Heinrich Maiworm hat geschwiegen. Jahrzehntelang. Erst als die Eltern gestorben waren, fand er die Kraft, seine Geschichte öffentlich zu machen. Er meldete sich auf einen Aufruf des Erzbistums Paderborn als Betroffener. Jetzt gehört er zu den 20 Frauen und Männern, die vor wenigen Tagen in Paderborn eine Vertretung von Missbrauchs-Betroffenen gegründet haben (siehe Text unten). Diese Initiative will aktiv an der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in der Diözese mitarbeiten. „Die Struktur muss sich noch finden. Wir wollen unabhängig sein und kein Betroffenen-Beirat, der beim Erzbistum angedockt ist. Das begrüße ich sehr.“
Erzieher ist aktenkundig
Der beschuldigte Erzieher, der kein Kleriker war, ist im Generalvikariat aktenkundig, wie das Erzbistum auf Anfrage unserer Zeitung bestätigt. Ihm wird eine weitere Tat vorgeworfen (siehe Infobox). Der Übergriff durch den Präfekten war nicht der einzige sexuelle Missbrauch, den Heinrich Maiworm am Knabenkonvikt in Attendorn erleiden musste. Ein älterer Mitschüler verging sich fortgesetzt an ihm. „Daran erinnere ich mich sehr gut. Ich fand das demütigend, ich war ja noch viel zu jung um zu wissen, was der mit mir machte. Ein Einzelfall war ich sicher nicht.“
Damit geht es Maiworm wie den meisten Betroffenen. Zeugen gibt es nicht. Die Taten sind oft Jahrzehnte her. Die Betroffenen waren Kinder, die keine Sprache hatten für das, was ihnen angetan wurde. Das haben viele erst durch die aktuelle Diskussion einordnen können. Maiworm hatte das Glück, dass seine Eltern für ihn eintraten. Bei anderen Betroffenen, mit denen er gesprochen hat, hätten die Eltern den Kindern nicht geglaubt oder sie sogar aktiv in die Missbrauchssituation getrieben.
Den Opfern die Schuld gegeben
„Alle haben geschwiegen“, blickt Maiworm zurück. „Meine Eltern und ich wären aus der Stadt geprügelt worden, hätten wir damals öffentlich darüber gesprochen. Alle schauten damals weg, in den Kirchen, den Schulen, den Vereinen. Nicht wenige von denen, die heute empört sind, haben selbst missbraucht, noch weit mehr geschwiegen.“ Sei doch einmal etwas öffentlich geworden, habe man nicht selten den Opfern die Schuld gegeben. „Es sind Priester aufgeflogen, und die Gemeinde hat sich für ihren Verbleib eingesetzt, mit der Begründung: Der kann doch so gut mit unseren Kindern umgehen. Das ist irre, aber es war so.“
Dem 69-Jährigen ist es wichtig, die Zeitumstände in den 1960er und 1970er Jahren ins Bewusstsein zu rufen. Er analysiert: „Missbrauch war in der gesamten Gesellschaft extrem verbreitet, nicht nur in der Kirche. Es gab keine Bereitschaft, sich damit auseinanderzusetzen. Wir tun in der Diskussion so, als wenn wir damals auf dem Stand von heute gewesen wären.“ Ursachen für Missbrauch zu erforschen und vor allem Missbrauchstaten zu verhindern, sieht Maiworm als seine Aufgabe. Aus diesem Grund möchte er sich künftig intensiv in der Betroffenen-Vertretung engagieren und hat daher seine Olper Ehrenämter, etwa den Vorsitz des Seniorenbeirates, niedergelegt.
Die Pfarrer saßen an der Quelle
Die Institution Kirche habe Missbrauch strukturell begünstigt. „Die Pfarrer saßen an der Quelle damals, die wussten alles, die erfuhren es in der Beichte, die wussten genau, mit wem sie es zu tun hatten. Die wussten, der Vater oder der Onkel missbraucht den, da kann ich auch dran. Die haben sich ihre Opfer zielgerichtet ausgewählt.“
Trotz oder vielleicht auch wegen des Missbrauchs im Konvikt hat Heinrich Maiworm Theologie und Philosophie studiert und im Studium als Religionslehrer gearbeitet. Erst nach dem Studium ist er aus der Kirche ausgetreten. An Gott glaubt er nicht mehr. Gleichwohl überlegt er derzeit, wieder einzutreten. „An meinem Atheismus hat sich nichts geändert. Wenn ich also wieder eintreten will, dann nur wegen meiner Hoffnung, dass die Kirche eine Vorreiterrolle bei der Prävention spielen kann.“
Taten haben sich ins Netz verlagert
Obwohl Missbrauch gesellschaftlich geächtet sei, gebe es heute nicht weniger Taten, so Maiworms Einschätzung. „Er hat sich nur verlagert, von den Institutionen ins Private, zur Kinderpornografie im Internet.“ Das bringe große Herausforderungen mit sich. „Was macht man, wenn man mitkriegt, dass der Ehemann, der Bruder, der Schwager Kinderpornos auf dem Rechner konsumiert? Nestbeschmutzung ist nicht gern gesehen. Wir brauchen eine bundesweit einheitliche Anlaufstelle für Missbrauch, vergleichbar mit der Telefonseelsorge. Potenzielle Täter müssen wissen, dass die Entdeckungsgefahr groß ist. Nur das wirkt abschreckend.“
Enthüllungen aus Knabenkonvikten
Enthüllungen aus den Knabenkonvikten und Kollegs haben die Missbrauchsdebatte vor zwölf Jahren erst ins Rollen gebracht; der Jesuitenpater Klaus Mertes machte 2010 öffentlich, dass Schüler am Canisius Kolleg Berlin ihm ihre Missbrauchserfahrungen mit Patres offenbart hatten. BAP-Sänger Wolfgang Niedecken veröffentlichte in seiner Autobiographie „Auszeit“, dass er als 13-Jähriger im Internat von einem Pallottinerpater geschlagen und sexuell missbraucht wurde. Auch im Erzbistum Paderborn gab es Gerichtsverhandlungen gegen Täter, die immer wieder versetzt wurden und sich in jeder neuen Gemeinde an Kindern vergingen.
Deshalb will Heinrich Maiworm sich für Prävention engagieren. „Mein Fall, das sind Peanuts gegen das, was ich von den anderen Betroffenen gehört habe. Da liegen Sachverhalte zugrunde, die waren übelst.“
Stellungnahme des Erzbistums Paderborn
Das Erzbistum Paderborn nimmt auf Anfrage unserer Redaktion zum Fall Stellung. Sprecher Benjamin Krysmann schreibt: „Es wurde seinerzeit zu den vorgetragenen Vorwürfen entsprechend recherchiert. Aus den Angaben konnte auf einen Mitarbeiter der Einrichtung geschlossen werden, der nur für wenige Jahre in der Einrichtung tätig war und diese 1963 verlassen hat. Da es sich um keinen Kleriker handelte, gibt es zu der Person keine weiteren Angaben zum Verbleib. Zu der beschuldigten Person ist uns ein weiterer Vorwurf bekannt.“
Forschungsstudie: Betroffene können sich melden
Die Historikerinnen Prof. Dr. Nicole Priesching und Dr. Christine Hartig von der Universität Paderborn leiten ein Forschungsprojekt zur Missbrauchssituation im Erzbistum Paderborn 1941 bis 2002.
Mehr als 100 Betroffene haben sich nach einem Aufruf des Erzbistums bei den Wissenschaftlerinnen gemeldet. Zwei Betroffene haben mit Unterstützung des Erzbistums den Aufruf zur Gründung der unabhängigen Vertretung gestartet. Wer von Missbrauch durch Mitarbeiter des Erzbistums Paderborn betroffen war oder ist oder als Zeuge über Informationen verfügt kann sich melden: christine.hartig@upb.de