Hilchenbach. Heute weiß Annalena Sophie, dass es gut für sie war, nicht länger bei den Eltern aufzuwachsen. Ein Besuch in der ersten eigenen Wohnung.

Annalena Sophie Rau legt eine Schallplatte auf, kurz darauf erklingt Weihnachtsmusik. Den Schallplattenspieler konnte sie für wenig Geld bei Ebay ergattern, genauso wie den großen Röhrenfernseher vor ihrem Bett. „Ich liebe alles Retromäßige“, sagt sie. Ein künstlicher Weihnachtsbaum steht in der Ecke, darunter liegen schon die Geschenke für Weihnachten parat. Sie hat es sich in ihrer Wohnung gemütlich gemacht und strahlt über das ganze Gesicht – keiner würde erahnen, dass es ihr in ihrem Leben schon extrem schlecht ging. „Im Endeffekt hat mich aber alles dazu gemacht, wie ich heute bin“, sagt die 20-Jährige. Dass sie mit 15 Jahren eine betreute Wohngruppe des Vereins „Interkulturelle Soziale Arbeit und Forschung“ (ISAF) beziehen konnte, „war das Beste, was mir passieren konnte“, sagt sie rückblickend. „Sonst wäre mein Leben anders.“

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Entscheidung fürs Leben

Seit diesem Jahr lebt Annalena Sophie Rau in ihrer eigenen kleinen „Trainingswohnung“. Dort können junge Erwachsene bei ISAF erproben, ob das Alleine-Wohnen etwas für sie ist. Bei der gebürtigen Dillenburgerin hängen Bilder von der Familie und von Freundinnen und Freunden an den Wänden, das Schallplattenregal ist gut gefüllt und eine alte Uhr steht auf dem Regal. „Ich treffe mich gerne mit Freunden, gehe mit ihnen ins Kino oder spiele Gesellschaftsspiele“, erzählt sie. Kniffel hat es ihr besonders angetan. „Du bist sehr gesellig geworden“, sagt Christian Schipplock zu ihr, der sich um das pädagogische Alltagsgeschäft des Vereins kümmert. Annalena Sophie Rau lächelt und gibt zu: „Früher war ich oft nur in der WG, hatte nie Bock, was mit Freunden zu machen.“ Ihre Persönlichkeit habe sich erst „so richtig“ nach ihrem Umzug nach Hilchenbach entwickelt.

ISAF und Lagano

ISAF gibt Kindern, Jugendlichen oder junge Erwachsenen in Hilchenbach ein neues Zuhause, die nicht mehr in ihrer Familie bleiben können oder wollen. Der Verein kümmert sich intensiv um die Jugendhilfe und -betreuung.

Diese Arbeit ist mit der Tochterfirma „Lagano gGmbH“ verbunden. Bei Lagano wird Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine Ausbildung oder eine Teilhabe am Arbeitsleben ermöglicht, etwa im Gartenbau-, Hauswirtschafts- oder Bürobereich. Sprich: Einige wenige Bewohner der ISAF-Wohngruppen können auch eine Lehre bei der „Lagano gGmbH“ machen. Generell würden die Jugendlichen und jungen Erwachsenen aber auch darin bestärkt, bei einem externen Betrieb eine Ausbildung zu machen, unterstreicht Alexander Reichenau, der sich um die Verwaltungstätigkeiten bei ISAF kümmert.

Derzeit betreut der Verein 44 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 8 bis 32 Jahren. Neben den 36 Plätzen in den Wohngruppen gibt es 8 Trainingswohnen-Plätze. Finanziert wird ISAF über die Jugend- und Eingliederungshilfe. Lagano finanziert sich über am ersten Arbeitsmarkt erwirtschaftete Gelder, erläutert Alexander Reichenau. ISAF macht insgesamt den deutlich größeren Teil der Arbeit aus.

Mehr Infos gibt es auch im Internet unter www.isaf.net und www.lagano.org.

Dass Annalena Sophie Rau heute so zufrieden mit ihrem Leben ist („eine 11 von 10“), ist nicht selbstverständlich. Als 15-Jährige kam sie kaum noch aus dem Bett, ging monatelang nicht mehr zur Schule. Ihre Eltern versuchten ihr wieder und wieder zu helfen, kamen aber nicht mehr an sie ran. „Ich habe dicht gemacht“, sagt sie. Im Nachhinein weiß sie, dass sie sich zu dieser Zeit in einer schweren depressiven Phase befand. „Damals habe ich das gar nicht so schlimm empfunden. Rückblickend finde ich es krass. So schlimm wie da war es nie wieder“, sagt sie. Allein dass Annalena Sophie Rau mit 15 Jahren noch schulpflichtig ist, sorgt am Ende dafür, dass der Staat eingreift. Sie kommt erst in die Notaufnahme, dann in eine Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Ihr Vater würde heute noch über den Tag, als sie in die Notaufnahme kam, sagen: „Gott sei Dank war das so“, erzählt Annalena Sophie Rau.

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Doch geholfen werden kann nur den Menschen, denen auch geholfen werden will. „Ich habe in den ersten Tagen in der Klinik nichts gemacht“, erzählt Annalena Sophie Rau. Doch danach lässt sie sich auf die Therapie ein. „Das war ein krasser Unterschied“, sagt sie über den Umschwung. Die Gründe für ihre Depression seien vielfältig, vieles habe sie „damals nicht so aufgearbeitet“. Ein halbes Jahr verbringt sie in der Klinik, fühlt sich nach der Therapie gut. Doch was kommt danach? Sie hat Angst vor einer Spirale, Angst davor, dass sie die Depression im „echten Leben“ wieder einholt, es ihr wieder so schlecht geht, wie vor der Therapie. Sie befürchtet, dass ihr ein Leben mit ständigen Wechseln zwischen Klinik und zuhause bevorstehen könnte. Sie will, dass es ihr dauerhaft gut geht und weiß, dass dafür eine engmaschigere Betreuung nötig ist, die es so nur in der vollstationären Jugendhilfe gibt. Sie sucht nach einer betreuten Wohngruppe, schaut sich zwei an und entscheidet sich schließlich für eine der Wohngruppen von ISAF in Hilchenbach.

Annalena Sophie Rau hat sich in Hilchenbach ein gemütliches Zuhause in ihrer eigenen Wohnung geschaffen. 
Annalena Sophie Rau hat sich in Hilchenbach ein gemütliches Zuhause in ihrer eigenen Wohnung geschaffen.  © WP | Ina Carolin Pfau

Ihr Bauchgefühl sei gut gewesen und auch ihre Psychologin habe zu ihr gesagt: „Sowas Gutes wie hier wirst du nicht mehr finden“, erzählt Annalena Sophie Rau. Auch als sie in die Wohngruppe zieht, ist nicht immer alles gut, auch dort habe es „schlechte Phasen“ gegeben. „Durch die WG ist aber alles viel besser geworden als in den schlimmen Zeiten.“ Nach und nach kommt Annalena Sophie Rau in ihrem neuen Zuhause an, findet Freunde, besucht eine Realschule – aber nur kurz. „Das Schulsystem ist eine Katastrophe für Kinder mit Bedürfnissen wie Annalena“, sagt Christian Schipplock. Dort ist man meist nur ein Kind unter vielen. Kleinere Klassen und personelle Kontinuität bei den Lehrkräften seien für Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen viel besser, unterstreicht Christian Schipplock. „Potenzial entfaltet man nur da, wo man sich wohlfühlt.“

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Nach Beratungen mit den Betreuern entscheidet sich Annalena Sophie Rau für eine Förderschule. „Da ist das System anders, dort habe ich richtig oft mit meiner Lehrerin geredet“, sagt sie. Annalena Sophie Rau ist intelligent, alles Schulische ist für sie kein Problem. Doch die Rahmenbedingungen müssen stimmen, sodass sie sich richtig entfalten kann. Auf der Förderschule passen sie – mit 17 Jahren hat sie schließlich den Hauptschulabschluss in der Tasche. Und wieder stellt sich die Frage: Wie geht es jetzt weiter?

Vorbild für andere Bewohner

Annalena Sophie Rau entscheidet sich schließlich für ein Einstiegsqualifizierungsjahr für Jugendliche (EQJ) bei der Lagano gGmbH, einer Tochterfirma des ISAF-Vereins (siehe Box) und arbeitet dort ein Jahr lang im Büro. Danach schließt sie eine Ausbildung zur „Fachpraktikerin für Bürokommunikation“ im Betrieb an. Dort fühlt sie sich gut aufgehoben, hat Vertrauen gefasst. „Der Schritt in den Arbeitsalltag ist hier nicht so groß, wie zu einer fremden Firma zu fahren“, erklärt Christian Schipplock. Und die Betreuung ist natürlich wieder viel besser als im normalen Arbeitsleben, wo es oft nur noch auf Zeit und Geld ankommt, nicht unbedingt auf die Bedürfnisse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. „Hier gibt es immer die Option, jemanden anzusprechen. Wir sind da, man kann zu uns kommen“, betont Christian Schipplock.

Annalena Sophie Rau hat sich in Hilchenbach ein gemütliches Zuhause in ihrer eigenen Wohnung geschaffen. 
Annalena Sophie Rau hat sich in Hilchenbach ein gemütliches Zuhause in ihrer eigenen Wohnung geschaffen.  © WP | Ina Carolin Pfau

Die Begeisterung für alles Bürokratische liegt in Annalena Sophie Raus Familie – schon ihre Uroma war Sekretärin, erzählt sie. Die 20-Jährige kümmert sich gerne um Abrechnungen und Belege. „Manchmal muss ich bei einem Cent-Betrag den Fehler finden.“ Sie schätzt das strukturierte Arbeiten. Bereits im nächsten Sommer wird sie ihre Ausbildung beenden. „Ich sehe mich auch langfristig immer noch hier“, betont sie. Im Anschluss an ihre Ausbildung will sie noch zwei weitere Fortbildungsjahre dranhängen, damit sie sich „Bürokauffrau“ nennen kann. Sie ist ehrgeizig, plant aber nicht Jahre im Voraus. „Man weiß nie, was kommt.“ Annalena Sophie Rau will das Leben einfach auf sich zukommen lassen. Sie weiß, worauf sie achten muss und wo sie Hilfe findet, wenn sie wieder eine depressive Phase erlebt. Die Depression wird bei ISAF und Lagano auch nicht als Krankheit wahrgenommen, sondern als Persönlichkeitsmerkmal, unterstreicht Christian Schipplock.

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Die Menschen bei ISAF und Lagano sind zu Annalena Sophie Raus zweiten Familie geworden. „Ich habe viel durch die Betreuer gelernt“, erzählt sie. Auch zu ihrer leiblichen Familie hat sie bis heute engen Kontakt, auch wenn es am Anfang für alle Beteiligten schwer war, zu verstehen, dass es für die heute 20-Jährige besser war, nicht bei ihren Eltern aufzuwachsen. „Abstand ist manchmal die bessere Nähe“, sagt sie. Heiligabend wird sie auch dieses Jahr zusammen mit den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern der ISAF-Wohngruppen und Trainingswohnungen verbringen. „In der WG war früher Tradition, bei Mecces brunchen zu gehen“, sagt sie und lacht. Egal, wie die Feierlichkeiten am Ende genau aussehen werden: „Ich feiere mit beiden Familien“, sagt Annalena Sophie Rau, „an Heiligabend hier, am 25. Dezember fahre ich dann zu meinen Eltern und Geschwistern.“

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Annalena Sophie Rau hat sich in Hilchenbach ein gemütliches Zuhause in ihrer eigenen Wohnung geschaffen. 
Annalena Sophie Rau hat sich in Hilchenbach ein gemütliches Zuhause in ihrer eigenen Wohnung geschaffen.  © WP | Ina Carolin Pfau