Hilchenbach. Der Hilchenbacher Verein ISAF kümmert sich um Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die ihre Elternhäuser verlassen mussten.

Kinder erleben körperliche oder seelische Gewalt in der Familie und verlassen notgedrungen ihr Zuhause. Vielleicht ist es aber auch ganz anders. Es gibt keine Gewalt, Eltern wissen aber einfach nicht mehr weiter, wie sie ihrem Kind noch helfen können. Die Gründe, warum Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene ihr Elternhaus verlassen müssen, sind vielfältig und auch nicht immer klar bestimmbar. Der Verein „Interkulturelle Soziale Arbeit und Forschung“ (ISAF) gibt denen ein neues Zuhause, die nicht mehr in ihrer Familie bleiben konnten. Bald weitet er sein Angebot noch weiter aus.

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ISAF

„Wir haben so viele Anfragen. Wir könnten jeden Monat eine Wohngruppe eröffnen“, sagt Christian Schipplock, der sich um das pädagogische Alltagsgeschäft des Vereins kümmert. Der gute Ruf hat sich herumgesprochen. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene kommen aus ganz Deutschland zu ISAF. Vier Häuser betreut der Verein, neun Betreuungsplätze gibt es je Haus. Die Häuser liegen ungefähr in einem Kilometer Entfernung voneinander. Auf eine Vergrößerung des Bereichs würde verzichtet, damit man weiterhin alles überblicken könne und die Qualität nicht leide, betont Alexander Reichenau, der sich um die Verwaltungstätigkeiten beim Verein kümmert.

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Wenn jemand Neues dazu kommt, wird geschaut, wer gut in die jeweilige Wohngruppe passen könnte. In die ISAF-Wohngruppen kommen häufig Menschen mit Entwicklungs- oder Persönlichkeitsstörungen. Ausgeschlossen werden Jugendlichen mit einer akuten Drogenproblematik. Derzeit betreut der Verein 44 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 8 bis 32 Jahren. Neben den 36 Plätzen in den Wohngruppen gibt es auch noch 8 Trainingswohnen-Plätze, wo junge Erwachsene in eigenen Wohnungen erproben können, ob das alleine wohnen etwas für sie ist. „Es ist das Sprungbrett in die Selbstständigkeit“, sagt Alexander Reichenau.

Sechs Mikrohäuser

Der Verein ISAF möchte seinen jungen Erwachsenen mit Mikrohäusern an der Wilhelmsburg neue Chancen geben (wir berichteten). Dort wird in sechs „Tiny Houses“ je ein Bewohner oder eine Bewohnerin wohnen. Sie üben, selbstorganisiert zu leben, indem sie für ihr eigenes kleines Haus innen und außen verantwortlich sind.

Alexander Reichenau hatte dafür bisher mit einer fünfstelligen KfW-Förderung pro Wohneinheit gerechnet. Nun kommt sie nicht zustande. „Wir müssen jetzt eine neue Finanzierung aufbauen“, sagt er. Hinzu komme, dass die Baustoffe immer teurer würden.

Die von „Vahee“ gebauten Microhäuser werden nach derzeitigen Planungen nicht schon 2022, sondern wahrscheinlich erst 2023 auf dem vereinseigenen Grundstück an der Wilhelmsburg platziert werden.

Lagano

ISAF kümmert sich somit intensiv um die Jugendhilfe und -betreuung – eine enorm wichtige Arbeit. Die ist in Hilchenbach mit der Tochterfirma „Lagano gGmbH“ verbunden. Bei Lagano wird Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine Ausbildung oder eine Teilhabe am Arbeitsleben ermöglicht, etwa im Gartenbau-, Hauswirtschafts- oder Bürobereich. Sprich: Einige wenige Bewohner der ISAF-Wohngruppen können auch eine Lehre bei der „Lagano gGmbH“ machen. Denn nicht jede oder jeder der jungen Erwachsenen bei ISAF sei auch für den ersten Arbeitsmarkt bereit, erläutert Alexander Reichenau. „Mit der Lagano gGmbH haben wir andere Möglichkeiten.“

Alexander Reichenau betont ausdrücklich, dass die Jugendlichen und jungen Erwachsenen generell aber auch darin bestärkt würden, bei einem externen Betrieb eine Ausbildung zu machen. „Einer hat zum Beispiel eine Winzer-Ausbildung am Rhein gemacht“, sagt er. „Wir gucken: Was ist individuell möglich? Wo sind die persönlichen 100 Prozent?“, so Christian Schipplock. „Manche brauchen weitere Hilfe, manche weniger.“ Das gilt sowohl für das Leben nach der Schule und den individuellen Berufsweg, aber auch für das Leben als Erwachsener generell. Während andere vielleicht Schwierigkeiten bei vermeintlich einfachen Dingen haben, studieren andere ehemalige ISAF-Bewohnerinnen und Bewohner. Finanziert wird ISAF über die über Jugend- und Eingliederungshilfe. Lagano finanziert sich über am ersten Arbeitsmarkt erwirtschaftete Gelder, erläutert Alexander Reichenau. ISAF macht insgesamt den deutlich größeren Teil der Arbeit aus.

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Werte

In 99 Prozent der Fälle vermittle das Jugendamt die Kinder, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen zu ISAF nach Hilchenbach, berichtet Christian Schipplock. „Es gab aber auch schon den Fall, dass sich Eltern informiert und von ihrem Wunschrecht Gebrauch gemacht haben“, betont er. Dann kam ihr Kind nach Hilchenbach, wenn ein Platz in den ISAF-Wohngruppen frei war.

Die „Vahee GmbH“ produziert in der ehemaligen Firma Loos in Hilchenbach Mikrohäuser. Sechs fest installierte „Tiny Houses“ sollen zukünftig an der Wilhelmsburg bei ISAF ihren Platz finden.
Die „Vahee GmbH“ produziert in der ehemaligen Firma Loos in Hilchenbach Mikrohäuser. Sechs fest installierte „Tiny Houses“ sollen zukünftig an der Wilhelmsburg bei ISAF ihren Platz finden. © WP | Ina Carolin Pfau

Bei ISAF wird viel Wert auf eine „aufsuchende Elternarbeit“ gelegt: Vier Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind bei ISAF extra dafür da, die Eltern der Wohngruppenbewohnerinnen und -bewohner an ihrem Wohnort zu besuchen, um mehr über sie herauszufinden. Das Ziel: Die Eltern sollen werthaltig beschrieben werden können. Christian Schipplock nennt ein Beispiel: „Der Vater ist der Alkoholiker und Schläger, die Mutter geht nur Feiern. So wird es oft beschrieben. Wenn das Kind zum Beispiel weiß, der Vater macht sinnvolle Arbeit und die Mutter war früher eine tolle Turnerin, verortet es sich selbstbewusst und positiv im Familiensystem.“ Es sei immer etwas Werthaltiges vorhanden, egal in welcher Familie. „Wir suchen so lange, bis wir positive Ressourcen haben.“ So würde die Verbindung zwischen Eltern und Kind auch wieder stärker. Wenn ein Kind später sage, der Vater sei nur „ein Trinker“ habe man bei der pädagogischen Arbeit etwas falsch gemacht, so Christian Schipplock. Ziel sei, allen die vorhandenen positiven Ressourcen zu vermitteln und darüber das Selbstbewusstsein zu stärken. Manchmal könne man die Eltern auch dazu bewegen, sich Hilfe für ihre eigenen Probleme zu suchen.

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Zukunft

Zukünftig möchte sich die Lagano gGmbH zusätzlich als „Anderer Leistungsanbieter“ gemäß des Bundesteilhabegesetzes aufstellen: Das Angebot würde speziell auf Jugendliche und junge Erwachsene mit sozial-emotionalem Handicap ausgerichtet, als Ergänzung zum Angebot der lokalen Werkstätten für Menschen mit Behinderung, erläutert Alexander Reichenau. Mit nur wenigen Plätzen eine Art „Mini-Werkstatt“. „Diese wird in die vorhandene Struktur eingebaut“, sagt Alexander Reichenau. „Das Konzept ist von der Arbeitsagentur genehmigt, eine sicherheitstechnische Überprüfung steht noch aus.“

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Hintergrund ist, dass Menschen mit Behinderungen, die Anspruch auf Aufnahme in eine Werkstatt für behinderte Menschen haben, nach dem Bundesteilhabegesetz seit Januar 2018 alternativ die ihnen zustehenden Leistungen auch außerhalb bei anderen Leistungsanbietern in Anspruch nehmen können. Alexander Reichenau und Christian Schipplock möchten mit dem Angebot auch die Möglichkeit geben, dass junge Erwachsene, die Anspruch auf eine Werkstattaufnahme haben und für die es kein passendes Angebot auf dem Markt gibt, nicht von ISAF oder Lagano weggeschickt werden müssen, weil es bisher nicht zum Angebot gehört. „Bald haben wir ein Gesamtpaket“, so Christian Schipplock.

Mehr Infos zur Arbeit des Vereins gibt es auch unter www.isaf.net, zur der der Lagano gGmbH unter www.lagano.org.

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