Kreuztal. Immer mehr Arme: So viele Gäste hatte der Kreuztaler Mittagstisch noch nie – zum gemeinsamen Festessen ist der Saal nun zu klein.

„Wo sind die anderen beiden?“ fragt Matthias Hahn, der mit einem Mundnasenschutz hinter einer Plexiglasplatte sitzt. Hinter der OP-Maske versteckt sich ein lächelndes Gesicht. Zusammen mit Margret Stahlschmidt lässt er sich die kleinen Zettel zeigen, mit denen die Menschen ihre Bedürftigkeit nachweisen, beim Kreuztaler Mittagstisch essen zu dürften.

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Dienstags und freitags hat der Kreuztaler Mittagstisch, in den Räumen unterhalb der Kreuzkirche von 11.30 Uhr bis 13 Uhr geöffnet.“ Zwischen 60 und 80 Essen gehen dann an die bedürftigen Menschen raus“, erklärt Margret Stahlschmidt. Die 15 Helferinnen und Helfer des Kreuztaler Mittagstischs haben zum Weihnachtsessen eingeladen. 198 Anmeldungen haben sie an diesem Tag auf ihrer Liste stehen.

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Viele Gäste und die Helfer duzen sich, halten ein kurzes Schwätzchen. Dann bekommen sie eine große Tasche mit Lebensmitteln und eine Mahlzeit ausgegeben. An diesem Tag sogar komplett kostenfrei. Sonst wird eine geringe Gebühr von 1,50 Euro fällig. Die Gäste kommen aus Kreuztal, Hilchenbach. Geisweid und Siegen. Auch viele Ukrainer sind nun dabei. Für ein Weihnachtsessen im Saal ist der Andrang zu groß: Auch um Ansteckungsrisiken zu verringern, wurde das Essen diesmal in Boxen zum Mitnehmen ausgegeben. Es gibt Rinderbraten mit einer dunklen Bratensauce, Mischgemüse und ein süßes Dessert mit frischen Beeren.

Weihnachtsessen zum Mitnehmen: Ruth Stricker-Gies, Ute Seiffarth und Anne Pröpper (von links) übernehmen die Ausgabe.
Weihnachtsessen zum Mitnehmen: Ruth Stricker-Gies, Ute Seiffarth und Anne Pröpper (von links) übernehmen die Ausgabe. © Kai Osthoff | Kai Osthoff

Zum Leben bleiben im Monat 33 Euro

Andreas Piechnitzek ist einer von den 198 Menschen, die sich um die Mittagszeit zur Kreuzkirche aufgemacht haben. Mit dem Bus ist der 53-Jährige vom Westhang in Geisweid nach Kreuztal gekommen. Seit 12 Jahren ist er arbeitslos, lebt von Hartz 4. Früher hat er als Verfahrensmechaniker bei einem großen Unternehmen in Geisweid gearbeitet. Mehrere Unfälle, darunter ein Blech im Kopf, eine Verletzung am Bein, die ihm Durchblutungsstörungen bereiteten, sorgten im weiteren Verlauf dafür, dass er krank wurde. Schwere Arbeit sei nur noch drei Stunden am Tag möglich. Und welcher Chef wolle schon so einen Menschen einstellen, erzählt er.

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„Ich bekommen 750 Euro im Monat. Davon muss ich meine Miete und die Nebenkosten zahlen. Das sind rund 450 Euro. Am Ende blieben mir im Monat rund 300 Euro zum Leben“, erzählt Andreas Piechnitzek. Mal schön essen gehen, ein Besuch im Kino oder ähnliches sei nicht drin. „Umso mehr freue ich mich über diese guten Sachen, die der Kreuztaler Mittagstisch uns hier heute schenkt. Die haben gewiss einen Wert von 50 Euro“, so der 53-Jährige. Auch wenn er wegen der Teuerung noch nicht weiß, wie es im nächsten Jahr weitergehen soll, hat er eins nicht verloren: „Lachen und meinen Humor“, sagt er, als er sich die große Tasche geben lässt.

Viele Senioren und Familien

Der Kreuztaler Mittagstisch wurde 2008 als Gemeinschaftsprojekt der vier evangelischen Kirchengemeinden Kreuztals gegründet. Seit Januar 2019 ist der Mittagstisch der Stiftung Diakoniestation Kreuztal angegliedert.

Das Anliegen des Mittagstisches ist es, gegen ein geringes Entgelt, Bedürftigen jeweils dienstags und freitags eine warme Mahlzeit anzubieten. Der größte Teil der Gäste ist im Alter zwischen 55 und 80 Jahren, es kommen aber auch regelmäßig Familien mit Kindern.

Der Mittagstisch holt Lebensmittel – Spenden in Kreuztaler Geschäften ab. Von diesen Lebensmitteln wird gekocht. Die übrigen Lebensmittel werden an die Gäste weitergegeben.

Nach Schlaganfall am Steuer mit 39 in die Rente

Darüber freut sich auch Johannes Jurke. Der 69-Jährige wohnt in Kreuztal und ist gebürtig aus dem Erzgebirge. Es kommt bereits seit sechs oder acht Jahren zum Kreuztaler Mittagstisch. Er hat als Bohrwerksdreher gearbeitet. Im Juni 1993 hatte er mit 36 Jahren einen Schlaganfall. Und das während einer Autofahrt über die B 62 in Eschenbach. Er prallte damals gegen eine Straßenlaterne. Danach lag er sechs Monate im Koma, konnte danach knapp ein Jahr nicht sprechen. „Kommt er durch oder nicht? Das wurde damals gesagt. Ich habe mich durchgebissen.“ Es folgten Therapien, doch sein linkes Bein ist seitdem vom Knie aus taub. „Mit gerade einmal 39 Jahren wurde ich dann zum Rentner degradiert“, erzählt Johannes Jurke. Er versuche bisher alle Dinge im Alltag selbst zu erledigen und niemandem zur Last zu fallen. Durch sein Schicksal und die damit einhergehende körperliche Beeinträchtigung ist es ihm gestattet, den Kreuztaler Mittagstisch in Anspruch zu nehmen.

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Viele von den anderen 198 Besuchern an diesem Tag – 101 Einzelpersonen und 98, die im Familienverbund gekommen sind – sind nicht so offen mit ihren persönlichen Lebenswegen. Viele bitten, nicht fotografiert zu werden. „Mir ist das mittlerweile egal. Ich habe mich daran gewöhnt und schäme mich nicht mehr für mein Leben“, sagt Andreas Piechnitzek.

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