Siegerland. „Schaulaufen“ mit Kind – alle Eltern kennen das. Mia (6) hat eine Behinderung – für ihre Mama Lisa Mareile Stücher sind Spielplatz-Termine anders

In diesem Blog schreibt Lisa Mareile Stücher über ihren Alltag – zwei Absätze weiter unten. Ihre Tochter Mia Cécilia (6) ist behindert, sie hat das Angelman-Syndrom, einen sehr seltenen Gendefekt. Lange hatten sich die Stüchers ein Kind gewünscht; als Mia da war, stellten sie irgendwann Entwicklungsverzögerungen fest. Mia hatte zum Beispiel Probleme, ihren Kopf zu heben. Die Stüchers gingen mit ihr zur Physiotherapie, trotzdem stellten sie keine Verbesserung fest. Auch mit der Lautsprache tat und tut sich Mia schwer. Die Stüchers hatten einen Kinderarzt, der Mia gut kannte, sich sehr für die Familie einsetzte – als der Mediziner die Stelle wechselte, zogen die Stüchers sogar hinterher. Schließlich, nach einem Gentest, erhielt Mia Cécilia Stücher kurz vor ihrem dritten Geburtstag die Diagnose Angelman-Syndrom. „Wir merken jetzt: Vom Kopf her bleibt sie auf diesem Stand stehen. Sie wächst aber“, erklärt Papa Niclas Stücher.

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Mia mag nicht gewickelt werden, Zähne putzen auch nicht, erzählt ihr Vater. „Wir kennen es nur so.“ Normalität, die viel herausfordernder ist als der Alltag anderer Eltern. „Man muss immer noch zehn Schritte weiterdenken“, sagt er. An Dinge, an die die allermeisten Eltern niemals einen Gedanken verschwenden müssen – auch, weil es mit der Inklusion an vielen Stellen dann doch nicht so weit her ist. Das Leben der Stüchers ist anders – und nur anders. Nicht besser oder schlechter, anders eben, aber am Ende ganz normal. Davon erzählen sie hier: Vom Alltag mit ihren beiden Kindern. Inzwischen ist Mia in der Schule.

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Der Kampf gegen den Schweinehund und für Inklusion – von Lisa Mareile Stücher

Meine Freundinnen wollen mit ihren Kindern auf den Spielplatz. Und ihr wisst, der Spielplatz ist für mich der Endgegner. Kennt ihr diesen Schweinehund, der manch einen abends mit Chips auf der Couch sitzen lässt, statt ins Fitnessstudio zu gehen? Ich sehe ihm direkt in die Augen und kann gar nicht sagen, was mich mehr Kraft kostet. Ihn anzubrüllen und zuzusagen oder selbst wie ein räudiger Hund davonzuschleichen und abzusagen. Es ist unheimlich schwer. Wieder eine Entscheidung. Kämpfe ich gegen ihn und gewinne vielleicht einen schönen Nachmittag oder zieh ich mich direkt zurück und hab einen entspannten Tag allein mit den Kindern zuhause?

Ich habe Disziplin und Ausdauer. Aber manchmal fehlt mir einfach die Energie. Zu überlegen, wie das werden könnte, ob Mia es genießen wird oder wir nach paar Minuten sowieso wieder gefrustet gehen müssen. In dem Fall würde sich mein Sohn natürlich weigern und das Drama wäre perfekt und alle Augen, wären, wie so oft, wieder nur auf uns gerichtet. Sowieso fühl ich mich immer auf so – ich nenne es mal „Veranstaltungen“ – wo Mamas mit ihren Kindern sind, wie bei einem Schaulaufen. Wer hat sein Kind gut erzogen? Wer bringt nur Kekse mit, wer Obst? Wer hat sich entsprechend schick gemacht und kann mit dicker Sonnenbrille entspannt in der Sonne sitzen und die Kinder ihr Ding machen lassen?

Es regt mich einfach nur auf! Immer diese Vergleiche. Ich bin nicht Heidi Klum und ich sitze auch nicht da. Ich renne die ganze Zeit meinem Kind hinterher und versuche dabei freundlich, wenigstens halbe Gespräche mit den anderen Mamas führen zu können. Meistens brüllen wir uns nur Worte zu. Es geht einfach nicht. Ich muss einfach jede Sekunde aufpassen und zumindest neben Mia stehen, damit ich sie auffangen kann, falls sie ohne Vorwarnung vom Karussell aufsteht oder auf die Schaukel klettern will. Es ist eigentlich nur nervig, dass diese Situationen so sind und natürlich auch, dass ich nicht einfach dasitzen kann. Aber es gibt auch noch die Kehrseite. Natürlich will ich auch gefragt werden. Keiner will übergangen oder vergessen werden.

Wir wünschen uns Inklusion. Und wenn keiner nach uns fragt, ob wir teilnehmen wollen und wir nicht raus gehen, uns zeigen; ja ein Stück weit präsentieren, was Behinderung ist und dass man auch gut gemeinsam leben kann und jeder Mensch geliebt und wertvoll ist, dann haben wir selbst Inklusion verfehlt. Und doch sind wir es oft, die sich ausgrenzen. Weil unsere Kapazitäten mittlerweile fast aufgebracht sind, alles sich wie ein gigantischer Kraftakt anfühlt und man manchmal schlicht und ergreifend den leichteren Weg wählt. Den Weg allein zu bleiben. In sicherer Umgebung. Wo auch wir einmal abschalten und durchatmen können.

Trotzdem wollen wir Mia den Kontakt mit anderen Kindern ermöglichen, Ausflüge machen, Kindergartenübernachtung. Aber vieles davon geht eben nicht. Weil die Logistik, die Spielgeräte, die Begebenheiten nicht stimmen oder die Mitmenschen oder wir selbst es eben einfach nicht können. Das macht mich traurig. Und ich muss es immer entscheiden.

Werfen wir uns ins Getümmel oder lassen wir es? Was wird Mia Mehrwert bringen? Zuhause zu sein? Oder hat sie Mehrwert davon im Kindergarten zu übernachten, kein Auge zuzumachen, womöglich die anderen Kindern zu wecken und sich unwohl fühlen, ohne ihre Abendroutine, ihr gemütlich gemachtes Pflegebett? Hat sie vielleicht eine mega Freude, feiert es und schläft todmüde und glücklich zwischen ihren Kindergartenfreunden ein und ist stolz wie Oskar, dass sie das geschafft hat?

Inklusion ist schwer. Auch für uns. Aber wir kämpfen weiter. Gegen unseren Schweinehund und die Gesellschaft und Gegebenheiten. Unser Kind wird es uns danken.

Eltern die pflegen haben keinen leichten Job. Und doch ist unsere Arbeit so viel wert – Von Lisa Mareile Stücher

Ich habe mich gegen meine erwerbstätige Arbeit entschieden und kehre aus dem Mutterschutz vorerst nicht zurück. Ich bin dankbar, die Wahl zu haben. Trotzdem fühlt es sich ein bisschen nach Aufgeben an. Meines alten Lebens, vor den Kindern.

Man verbringt so viel Zeit auf der Arbeit als kinderloser Mensch. Aus Kollegen werden Freunde, aus Arbeit wird mitunter Freude. Dann gibt es eine Kehrtwende, wenn man Eltern wird und irgendwann wirft man sich zurück in Arbeitsleben und Alltagsstrudel. Dass ich nun weiterhin zuhause bleibe, auch wenn die Kinder in den Einrichtungen sind, ist für mich ganz neu. Es ist Luxus: Zeit zu haben. Sich Zeit für etwas zu nehmen. So richtig angekommen in dem Gedanken und diesem neuen Alltag bin ich noch nicht. Denn: „Du bist nicht mehr so belastbar. Das merkt man auch“, hörte ich neulich jemanden zu mir sagen. Ich bin sicher, dass es nicht wertend gemeint war. Trotzdem machte ich mir Gedanken. Bin ich nicht mehr belastbar?

Mir war schnell klar, dass diese Aussage absolut richtig ist. Ich bin nicht mehr so belastbar wie vor einigen Jahren. Wo ich damals noch jede Handynummer und jeden Mitschüler von der Grundschule gekannt habe, weiß ich heute nicht mal die Nummer meines Mannes noch irgendeinen Namen zu einem Gesicht. Ich hab’ da nur Fragezeichen im Kopf. Meine Prioritäten und mein Fokus haben sich komplett auf unsere Kinder gelegt. Es gibt nichts Wichtigeres als ihr Wohlergehen. Da brauch’ ich keine Handynummer oder Namen im Kopf zu haben. Dennoch schmerzt es ein wenig zu wissen, dass auch mein Umfeld meine Veränderung und meine Belastbarkeit bemerkt und benennt.

Ich war auch ehrlich gesagt traurig, meinen Arbeitsplatz aufzugeben. Natürlich weiß ich, dass es absolut richtig so ist und ich bin sicher, dass mein Platz aktuell zuhause ist. Aber es ist eben ein Abschließen. Wenn auch vorerst – wer weiß, was kommt. Eine regelmäßige und zuverlässige Arbeit kann ich derzeit nicht leisten. Und ich finde es ok das zu sagen. Eltern, die pflegen, leisten Zuhause Unglaubliches. Es sind nicht nur Windeln, die man einem Kleinkind ständig wechseln muss, es ist nicht nur der Zahnputzkampf morgens und abends, es sind nicht nur die Berge Wäsche die sich ansammeln, weil alles an die Klamotten geschmiert wird, es sind nicht nur halbdurchgemachte Nächte, weil das Kind nicht schlafen kann.

Es sind vor allem die Sorgen. Die Sorgen vor der Zukunft, die Sorgen vor allem, was im Ungewissen ist. Die tausend Dinge, die auf mich einprasseln und jeder zieht wieder neue Dinge nach sich. Es ist ok, wenn mich das alles zeitweise überfordert und ich mich aktuell nicht in der Lage sehe, einer erwerbstätigen Arbeit nachzugehen. Ich arbeite zuhause. Mit meinen Kindern. Ich bin dankbar für dieses Privileg. Eltern, die pflegen haben keinen leichten Job. Und doch ist unsere Arbeit so viel wert.

Mia nutzt meine Gutmütigkeit aus. So kommen wir nicht weiter. Von Lisa Mareile Stücher

Es geht immer weiter. Man selbst bemerkt es kaum, aber die Entwicklung der Kinder schreitet ständig voran. Wie eben auch die eigene. Und dann kommt jemand von außen und beurteilt dein Kind. Und ich staune. Stimmt, sie hat neue Sachen gelernt. Ist sicherer im Laufen geworden, springt Trampolin und klettert auf Tische, Stühle und die Couch. Was mich weniger freudig stimmt, aber die Motorik und Balance ist ein Hit!

Trotzdem ist unsere Mia auch ein normales Kind. Sie probiert Dinge aus, versteht wenn sie etwas nicht soll und testet aus. Wie jedes Kind eben. Mein Sohn meckert noch dabei oder gibt freche Antworten. Normal eben. Aber auch Mias Augen funkeln und man weiß sofort, dass sie weiß, das sie was nicht soll. Wir hatten neulich Besuch von Mias Gebärdentrainerin. Bei ihr machte sie die Gebärden und schüttete sogar selbst mit einer Kanne Wasser in ihren Becher. Ich war einerseits so stolz, dass sie mehr kann als ich erwartet habe. Andererseits auch so traurig, weil sie offensichtlich meine Gutmütigkeit ausnutzt und wir so einfach nicht weiterkommen.

Wenn Besuch da ist, schüttet Mia sich selbst Wasser in den Becher. Im Alltag lässt sie sich gerne auch mal bedienen.
Wenn Besuch da ist, schüttet Mia sich selbst Wasser in den Becher. Im Alltag lässt sie sich gerne auch mal bedienen. © Privat | Familie Stücher

Ich möchte nicht immer gegen sie arbeiten. Ich möchte mit ihr arbeiten. Leider versteht Mia noch nicht, dass wir gemeinsam weiterkommen, wenn wir gebärden. Sie könnte, wenn sie wollte. Mein Herz schmerzt. Ich bin müde und traurig. Die Erkenntnis zu erlangen, dass es einfach noch ein sehr langer Weg ist und ich noch strenger sein muss und auch selbst wieder gegen mich gehen muss, um ihr Dinge zu überlassen. ist herausfordernd. Geduldig zu sein. Abzuwarten. Zuzutrauen. Damit sie Selbstständigkeit lernt. Selbst anziehen. Selbst einschütten. Selbstbestimmt sein. Ich wünsche mir doch einfach nur, dass meine Kinder möglichst selbstständig sein können. Es ist ganz schön schwer.

Seine 5000 Wörter am Tag sind toll – Mias zwei Wörter auch: Mama und Papa. Von Lisa Mareile Stücher

Dauerhaftes Gequatsche. Reden ohne Punkt und Komma. „Aber Mama, warum denn?“ Diese Frage höre ich derzeit gefühlt tausend Mal am Tag. Unser Sohn ist in der heißen Phase, wo er alles ganz genau wissen will. Und wir reden und reden und erklären und erklären, bis wir selbst vergessen haben, wovon wir eigentlich reden. Wie schön ist es dann, wenn er schläft und Ruhe herrscht. Und dann ist es mir plötzlich zu still. Ich bemerke, wovon ich den ganzen Tag mit unserem Sohn gesprochen habe: Vom Wetter, was im Kindergarten gewesen ist, was er tun möchte, was er lassen möchte, was ich tun soll, was ich lassen soll, was er spielen, was er essen möchte, was er fühlt und was die Nachbarn gerade tun. Wir reden so viel, wir tauschen so viel aus. Gefühle, Erlebnisse, Aktionen, Abenteuer.

Was Mia wohl erlebt hat? Was sie wohl sagen würde, könnte sie sich in unsere Gespräche einklinken? Wie gern würde ich in ihren Kopf schauen, ihre Gedanken lesen können. Was würde sie mir morgens zur Antwort geben, wenn sie sieht, welche Kleidung ich ihr rausgelegt habe? Würde sie mir erklären, dass sie ihren Joghurt nicht essen wollte, weil es im Kindergarten eine Geburtstagsparty gab und sie schon satt war? Ob sie mir wohl verraten würde, wo sie sich den Finger geklemmt hat und dass es nach Mamas Pusten wieder gut ist?

Was Mia wohl sagen würde? „Wie gern würde ich in ihren Kopf schauen, ihre Gedanken lesen können“, so ihre Mutter Lisa Mareile Stücher.
Was Mia wohl sagen würde? „Wie gern würde ich in ihren Kopf schauen, ihre Gedanken lesen können“, so ihre Mutter Lisa Mareile Stücher. © Privat | Familie Stücher

Neulich gegen Mitternacht wachte Mia auf. War sichtlich unzufrieden. Ich küsse ihre Stirn, um ihre Temperatur zu fühlen. Normal. Zur Sicherheit fühle ich noch Bauch und Rücken. Auch normal. Also schau ich in die Windel. Nicht der Rede wert. Obwohl sie keine Lust darauf hat, wickele ich sie. Aber die volle Windel hat sie wohl nicht gestört. Sie ist immer noch unzufrieden. Langsam wird sie pampig und läuft los. Ich laufe hinterher. Sie rappelt an unserem Treppengitter, öffnet das Schloss und geht die Treppe hinunter. Unten angekommen geht’s schnurstracks in die Küche und an die Wasserkaraffe. Jetzt hab ich’s endlich gerafft: Sie hat Durst! Also Wasser in den Becher und in einem Zug weggezogen. Sie sitzt am Küchentisch und zeigt auf das Symbol für „nochmal“. Das wiederholt sie, bis sie drei volle Becher in einem Zug geleert hat. Das Symbol nutzt sie sonst nie. Ich verbringe die Nacht bei ihr um sicherzugehen, dass sonst wirklich alles in Ordnung ist.

Ich bin echt fein mit Mias Behinderung. Aber dass sie nicht spricht, das macht mir echt zu schaffen.

Es überkommt mich. Es schmerzt. Ich versuche alles in ihrem Blick zu lesen und ihr Möglichkeiten zur Kommunikation zu geben. Aber momentan nutzt sie sie noch nicht. Kann es nicht, will es nicht. Wer weiß. Sie verrät es mir ja nicht. Wenn es am Abend dann endlich still im Bett ist und keiner mehr quatscht, atme ich durch und bin dankbar, dass ich ein Kind habe, dass mir eine Frikadelle ans Ohr quatscht. Ich weiß, wie er sich fühlt, was ihn bewegt, was ihm Angst und Freude macht, was ihm weh tut, was ihm gefällt und was er nicht mag. Lautsprache ist krass wichtig und ich freue mich über jedes Wort. Auch wenn ich schon mal genervt bin. Seine 5000 Wörter am Tag sind aber ebenso wichtig wie Mias zwei Worte: Mama und Papa.

Heute sind wir mutig: Wir gehen auf den Spielplatz – wie alle Familien eben. Von Lisa Mareile Stücher

Heute sind wir mutig. Ich muss meinen Mann noch etwas überzeugen, denn ganz ehrlich: Spielplätze sind fast so schlimm wie Schwimmbäder. Unser Endgegner. Zu 90 Prozent ist da nichts auf Kinder mit Behinderung ausgelegt. Sie können drei Viertel alle Spielgeräte nicht selbstständig nutzen, außerdem durchbohren die Blicke der anderen Eltern einen permanent und man fühlt sich mit dem Monolog Richtung Kind zunehmend unwohl. Spielplätze sind mitunter die letzten Plätze, die wir aufsuchen.

Aber heute waren wir mutig, haben die letzten Kräfte mobilisiert und uns getraut. Es war Feiertag und wir wollten einen Ausflug machen – wie alle Familien eben. Also haben wir uns aufgemacht. Ich zugegebenermaßen mit etwas mehr Enthusiasmus als mein Mann. Aber wir haben uns zusammengerissen.

Papa Niclas mit Mia auf dem Spielplatz: „Für uns ein richtiges Fitnessprogramm“.
Papa Niclas mit Mia auf dem Spielplatz: „Für uns ein richtiges Fitnessprogramm“. © Privat | Familie Stücher

Unser Sohn kannte kein Halten mehr: Er hat sich so sehr über den Spielplatz gefreut und alles sofort erkundet. Und auch Mia zog mit. Wir begleiten sie auf jedes einzelne Spielgerät – für uns ein richtiges Fitnessprogramm. Aber gemeinsam erkunden wir alle Hängebrücken, Schaukeln, meterlange Rutschen und Sandkästen. Der Spielplatz ist nicht überfüllt und die anwesenden Eltern und Kinder durchbohren uns nicht. Was für eine Wohltat! Ein Feiertag, ein Familienausflug, der einfach ganz normal ist. Okay, wir haben nicht auf der Bank gesessen und Schwätzchen gehalten, aber wir beneiden die anderen Eltern auch nicht darum. Wir haben uns schon längst damit abgefunden, dass unser „normal“ ein anderes „normal“ als für andere Familien.

Wir haben es einfach genossen. Wir haben einen Spielplatz gefunden, der mit Mia machbar ist. Der Freude macht. Diese Stunde tat uns gut. Und hat uns gezeigt, dass sich mutig sein eben doch lohnt. Auch dieser Spielplatz kann natürlich noch mehr für Inklusion tun. Es gibt beispielsweise keine Kommunikationstafel oder keine Möglichkeit für Kinder, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Aber er ist immerhin machbar für Kinder mit Beeinträchtigung, je nachdem wie stark die Beeinträchtigung ist. Dass wir einen Spielplatz gefunden haben, der für uns machbar ist: Toll!

Wir sind beide 100 Prozent behindert, 100 Prozent perfekt – von Lisa Mareile Stücher

Ich bin ungeduldig. Ich hatte Pläne. War aufgeregt wegen der Zukunft. Bereits als Teenie fragte ich mich: „Wann finde ich endlich die große Liebe?“ Als ich sie fand, fragte ich mich: „Wie wird es wohl sein, verheiratet zu sein?“ Als ich verheiratet war, fragte ich mich: „Wann kaufen wir endlich ein Haus, werden sesshaft?“ Als wir unser Haus kauften, fragte ich mich: „Wann bekommen wir Kinder?“ Als ich schwanger war, fragte ich mich: „Wie wird es sein? Wie und wer werde ich als Mutter sein?“

Ich war noch nie der Karrieretyp. Abitur und Studium lehnte ich von vornherein ab, weil ich einfach einen schönen Bürojob und Mutter sein wollte. Ich wollte mittags nach Hause kommen und für die Kinder da sein. Das war alles. Eine zielstrebige und leistungsorientierte Karriere in den obersten Reihen hat mich nicht gereizt. Aber ich konnte es kaum abwarten, einen Mann, ein Zuhause und Kinder zu haben. Gott sei Dank, bin ich damit gesegnet worden.

Lisa Mareile Stücher und Mia (5): „Wir sind beide stark. Und beide schwach. Wir sind beide in uns selbst behindert. Und doch perfekt wie wir sind: 100 Prozent behindert – 100 Prozent perfekt.“
Lisa Mareile Stücher und Mia (5): „Wir sind beide stark. Und beide schwach. Wir sind beide in uns selbst behindert. Und doch perfekt wie wir sind: 100 Prozent behindert – 100 Prozent perfekt.“ © Familie Stücher | Privat

Doch mich überkam nun der Gedanke… womöglich bin auch ich „Teil des Problems“? Weil mein Alltag so anders ist als der anderer Menschen. Womöglich liegt es nicht nur daran, dass unser behindertes Kind mehr Aufmerksamkeit braucht und mehr Termine bei Ärzten, Therapeuten und Sanitätshäusern hat. Es liegt vielleicht nicht nur an der zusätzlich aufzubringenden Zeit, den ewigen Telefonaten, der Bürokratie oder den Kilometern, die ich zusätzlich fahren muss. Womöglich liegt es auch an mir. Einfach, weil ich ich bin.

Wenn ich so überlege: Nichts ist perfekt. Es gibt die perfekte Familie nicht. Und so sehr ich mich auch anstrenge, meinen – zugegebenen maßlos zu hohen – Perfektionismus auszuleben, gelingt es mir nicht. Weder mein Haushalt noch mein Essen sind perfekt. Von meinem Garten ganz zu schweigen. Weder meine Erziehung noch meine Beziehungen sind perfekt.

Worin ich aber ziemlich gut bin: Strukturen schaffen und beibehalten. Ordnung leben und ausstrahlen. Organisieren und für die Kinder alles haben, was sie brauchen. Das sind meine Stärken, die meinem Kind Ruhe und Orientierung geben. Die ihr Sicherheit geben in ihrer Schwäche und in ihrer Behinderung. Und ihre Stärken; ihr Lachen, ihr Kuscheln, ihr Wille und Durchhaltevermögen, ihr nonverbales aber umso intensiveres Kommunizieren geben mir ein glückliches Leben. Ruhe. Zufriedenheit. Stolz. Daran sehe ich, wie gleich wir doch sind. Wir sind beide stark. Und beide schwach. Wir sind beide in uns selbst behindert. Und doch perfekt wie wir sind: 100 Prozent behindert – 100 Prozent perfekt.

„Me-Time ist ziemlich rar, für jeden von uns“ – von Lisa Mareile Stücher

Ich will sinnlose Dinge streichen. Ich will zur Ruhe kommen. Durchatmen. Auftanken. Doch was ist sinnvoll? Ist es sinnvoll einzukaufen, um jeden Tag frisches Mittagessen zu kochen? Ist es sinnvoll zu bügeln? Macht es Sinn, das Haus sauber zu halten, alle Spielzeuge auf- und abzuräumen und unter dem Bett zu saugen? Ich entscheide weniger danach was sinnvoll ist, als danach was mir gut tut. Mir gefällt eine feinsäuberlich und nach Farben sortierte Wäsche im Schrank. Ich freue mich, wenn unsere Mia genüsslich „hmmmmm“ schnurrt, wenn sie mein Essen isst. Und ich bin glücklich, wenn sie nachts ohne Fusseln im Mund ihren Schnuller einfach unter dem Bett herausfischen und weiter nuckeln kann.

Die viel benannte und aufgebauschte „Me-Time“ ist rar. Für jeden von uns. Und ja, auch ich arbeite daran, mehr davon zu haben. Aber letztlich geht diese Zeit immer auf Kosten anderen: den Partner, den Babysitter oder sonst jemand, der mir diese Zeit freischaufelt. Diese Zeit auch in Ruhe zu genießen, fällt mir mehr als schwer. Zu denken, ich kann die Zeit nun nutzen, wie ich will… Mir fallen 1000 Sachen ein und nicht wenige davon haben wir mit Erledigungen zu tun. Einfach, weil ich in Ruhe mal den Speicher aufräumen oder Akten sortieren könnte. Und letztendlich macht mich das ebenso zufrieden wie allein einkaufen oder ausgehen. Es sind halt eher die kleinen Sachen, die dann entspannter ablaufen und Luft in den sonst so vollen Alltag bringen.

Aktuell gehen beide Kinder in den Kindergarten. Und ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll. Mit Haushalt, Garten, Einkäufen. Mit viel zu lange vor sich hergeschobenen Dingen, die mit Kindern im Schlepptau einfach nicht machbar sind. Dann wäre da auch noch was für meine Gesundheit zu tun. Und meine Elternzeit endet bald auch, die Rückkehr in meinen Beruf steht bevor. Ich kann mich vor lauter To-Do´s gar nicht entscheiden und renne von A nach B um C im Vorbeigehen auch noch zu erledigen.

Ich sehne mich nach Ruhe. Das Sinnlose streichen, nur das Sinnvolle tun. Sinnvoll bedeutet per Definition „durchdacht, zweckmäßig, vernünftig“ oder „für jemanden einen Sinn haben, eine Befriedigung bedeutend“ Heute ist es sinnvoll für mich, zu schreiben und Kaffee zu trinken. Allein und in der Sonne. Und wenn die Kinder wieder kommen, geht der Trubel weiter. Ich werde es genießen. Weil das dann sinnvoll für mich ist. Und auch das kann meine Me-Time sein. Family-Time.

Darüber weinen wir immer wieder – und wir erleben pure Freude. von Lisa Mareile Stücher

Die Diagnose kam einen Mittwochabend nach 20 Uhr. Der Genetiker rief uns sofort an, als das Ergebnis da war. Mein Mann ging ans Telefon und nahm es fast schweigend entgegen. Er brauchte es mir nicht zu sagen. Ich fragte sofort: „Es ist das Angelman-Syndrom, oder?“ Wir hatten direkt darauf untersuchen lassen, da alle Indizien dafür sprachen. Wir riefen unsere Eltern an und überbrachten emotionslos die Nachricht. Offenbar war der Schock zu tief. Ich weinte nicht. Nicht so, wie ich es erwartet hätte. Es fühlte sich komisch an. Unser ruhig schlafendes Kind war doch das gleiche wie vor 10 Minuten. Und doch fühlte es ich an wie ein anderes Leben. Ein neues Leben.

Mia Stücher (heute 5 Jahre): „Ein Anruf und alles ist anders. Es war suspekt. Obwohl sich eigentlich nichts änderte.“
Mia Stücher (heute 5 Jahre): „Ein Anruf und alles ist anders. Es war suspekt. Obwohl sich eigentlich nichts änderte.“ © Privat | Familie Stücher

Ein Anruf und alles ist anders. Es war suspekt. Obwohl sich eigentlich nichts änderte. Unser Kind war das Gleiche. Wir waren die Gleichen. Es wäre nicht fair zu denken, Mia wäre dadurch eine andere Person oder weniger geliebt oder irgendetwas anderes. Aber es änderte sich doch etwas. Die Gewissheit war nun da, dass unser Leben doch anders aussehen würde als geplant.

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Die Träume waren geplatzt. Alle Träume. Vom unbeschwerten Urlaub über’m großen Teich, Ski fahren lernen, Quatsch labern und niffteln bei Spieleabenden. Dass wir einmal die jungen Herren aus dem Zimmer und dem Handy unserer Tochter verbannen und sie doch an einem besonderen Tag von Papa an den Altar geführt wird. Das war’s. Es wird nicht passieren.

Manchmal überkommt es einen noch. Diese Gewissheit. Da ist keine Reue. Einfach Traurigkeit. Traurig, dass wir all das mit ihr nicht in der Form erleben werden. Darüber weinen wir immer wieder. Oft bekommen wir Anerkennung, wie wir das alles machen. Fast schon Lob, wie stark wir sind. Dabei wird oft vergessen, dass wir es uns auch nicht ausgesucht haben. Und dass uns dieses Lob auch nicht wirklich gefällt. Niemand denkt beim Kinderwunsch oder in der Schwangerschaft, dass man doch bitte ein Kind mit Behinderung haben möchte. Ich kenne niemanden. Wir haben es ehrlicherweise auch nicht gedacht. Es ist wie es ist, sagt die Liebe.

Wir erleben dafür andere Dinge. Wir erleben pure Freude, wie sie reiner nicht sein könnte, wenn wir ihr Lachen sehen. Wir erleben echten Stolz, wenn wir einen neuen Entwicklungsschritt feiern und sehen, was sie alles bewerkstelligt bekommt. Wir spüren tiefste, innige Liebe, wenn sie uns umarmt und sie völlig außer sich ist, weil sie sich so über uns freut. Wir sehen ihr Leben; so übervoll mit bedingungsloser Liebe, tiefer, ehrlicher Freude, Stärke und Durchhaltevermögen. Ihr Leben ist ein Geschenk und erhellt unseres an jedem Tag. Ein Geschenk Gottes, welches wir voller Hingabe und Dankbarkeit annehmen.

Man sagt: „Hauptsache gesund.“ Doch das stimmt nicht. Hauptsache geliebt!

Was Inklusion wirklich ist: „Macht es uns bitte ein bisschen leichter!“ – von Lisa Mareile Stücher

Als Eltern eines Kindes mit Behinderung hat man mehr als einen Ordner im Schrank und mehr als einen Vollzeitjob, um sich um alles zu kümmern, was das Kind benötigt. Mittlerweile habe ich einen Ablagekorb in der Küche: mit allen laufenden Anfragen beim Sanitätshaus, Arztberichten, Stundennachweisen der Verhinderungspflege und Unterlagen der Krankenkasse. Griffparat. Ich bin in Elternzeit und mache Homeoffice. Zum Glück bin ich vom Fach…

Außerdem bin ich mehr als Ehefrau und Mama, mehr als Taxi und Putzfrau, mehr als Betreuerin und Köchin. Ich bin mehr als Sekretärin und Therapeutin. Ich bin auch Anwältin meiner Tochter. Wir stehen für sie in allen Bereichen ein. Ich informiere mich, suche, knüpfe Kontakte, um die neusten Hilfsmittel zu kennen und zu bekommen. Alles, was Mia weiterbringen könnte, recherchiere ich. Was die Kasse nicht zahlt, zahlen wir. Wir sind privilegiert, ausprobieren zu können und dafür Geld ausgeben zu dürfen.

Mia Stücher (5) auf dem Arm von Mama Lisa Mareile: Für die Eltern fühlt es sich nicht fair an, zu all den Belastungen zusätzlich mit der Bürokratie kämpfen zu müssen.
Mia Stücher (5) auf dem Arm von Mama Lisa Mareile: Für die Eltern fühlt es sich nicht fair an, zu all den Belastungen zusätzlich mit der Bürokratie kämpfen zu müssen. © Privat | Familie Stücher

Es ist doch unbegreiflich, dass ein Buggy für unser Kind (ohne weitere Pelotten oder Stützen – einfach nur ein Buggy bis 50 Kilo Traglast!) mehr als das Vier- bis Fünffache kosten soll! Natürlich müssen die Hilfsmittels allerlei Anforderungen standhalten, aber wie ist es zu rechtfertigen, dass Eltern, die auf Hilfsmittel angewiesen sind, diese oft nicht bewilligt bekommen und dann privat soviel tiefer in die Tasche greifen müssen? Wenn sie es denn überhaupt können! Es fühlt sich nicht fair an, sich zu all den Belastungen zusätzlich durch Bürokratien arbeiten zu müssen, von einem zuständigem Mitarbeiter zum nächsten durchgestellt zu werden, Zahlungen der Krankenkasse erst nach mehrfachem Anmahnen zu bekommen. Alles müssen wir uns erkämpfen. Wir müssen uns nicht nur um unser behindertes Kind kümmern, sondern auch noch durch diesen bürokratischen Dschungel irren. Das ist mir unbegreiflich.

Ich appelliere daran, dass sich das ändert. Inklusion ist so vieles! Es ist nicht nur, offen mit Behinderung umzugehen, es nicht als Schimpfwort, sondern als normales Wort zu sehen und zu benutzen. Ich kann sagen: „Mein Kind ist behindert“. Genauso wie ich sage: „Mein Kind ist nicht behindert“. Behindert sein ist normal. Nicht normal ist der Umgang damit. Der Schrei nach Inklusion wird lauter – und ich schreie mit!

Inklusion beginnt nicht am Spielplatz oder beim Einkaufen. Sie beginnt in unseren Herzen. Sie beginnt damit, betroffenen Familien das Leben zu erleichtern, bevor sie das Haus verlassen. Es beginnt bei den Anträgen, bei der Unterstützung der Krankenkassen, der Ämter. Es beginnt damit, nett zu sein. Empathie auszustrahlen. Sich anzunehmen und nicht weiterzuleiten. Mittel zur Verfügung zu stellen und den Eltern aktiv und praktisch Unterstützung anzubieten. Mit dem, was sie brauchen und nicht mit dem, was einem selbst gerade am besten in den Kram passt. Inklusion besteht darin, zu verstehen, nachvollziehen können. Nachzufragen und Dinge stehen zu lassen, anzunehmen. Aber auch Dinge auszusprechen und zu benennen. Anzupacken, eine Hand zu reichen oder eine Tür aufzuhalten. Rücksicht zu nehmen. Nicht auf dem Parkplatz für Menschen mit eingeschränktem Gehvermögen zu parken. Ein Lächeln, statt ein verachtendes Kopfschütteln oder Wegsehen, wenn man gerade in einer offenbar unangenehmen Situation steckt.

Es sind die kleinen Dinge, die uns Eltern das Leben leichter machen. Macht es uns bitte ein bisschen leichter. Lebt die Inklusion!

Grenzen der Belastbarkeit: Ist mehr Ruhe für uns schlechter für Mias Entwicklung?

Neues Jahr, neues Glück. Gute Vorsätze. Eigentlich sind wir nicht die Leute, die sich im Januar im Fitnessstudio anmelden und im Februar schon nicht mehr hingehen. Wir sind die Leute, die durchziehen was sie anfangen, komme was wolle. So habe ich auch bisher alle Therapien für Mia angefangen und durchgezogen. Inklusive durchgemachter Nächte, mit Fieber, stundenlang Autofahren oder Doppelbelastung mit Stillkind und Kleinkind. 4,5 Stunden täglich Therapie, 12 Tage lang. Natürlich schaffe ich das alles nur mit der Unterstützung unserer Familie. Ohne die geht gar nichts!

Aber dieses Jahr haben wir auch mal gute Vorsätze. Es geht nicht ums Fitnessstudio, aber sehr wohl um gesünder leben. Wir wollen mehr Familienzeit. Mehr Prime-Time statt nur Termine, Therapien und Stress. Wir wollen zusammen sein. Im Alltag Ruhe einbauen und entspannt und gelassen den Tag gestalten. Wir wollen Zeit verbringen und sie einfach vergehen lassen. Wir wollen uns fragen: „Was machen wir jetzt?“ und nicht sagen „Beeil dich – wir müssen los!“ Wir wissen: Das ist dieses Jahr das richtige für unsere Familie.

isa Mareile Stücher fühlt sich in einem Dilemma: „Die Entscheidung für diese freie Zeit, für die Familie, fühlt sich an wie eine Entscheidung gegen Mia“.
isa Mareile Stücher fühlt sich in einem Dilemma: „Die Entscheidung für diese freie Zeit, für die Familie, fühlt sich an wie eine Entscheidung gegen Mia“. © Privat | Familie Stücher

Trotzdem bin ich wieder in einem Dilemma. Innerlich zerrissen. Die Entscheidung für diese freie Zeit, für die Familie, fühlt sich an wie eine Entscheidung gegen Mia. Gegen ihre Therapie. Als ob ich ihre Weiterentwicklung für meine, unsere Ruhe opfere. Und tatsächlich hatte ich in den letzten fünf Jahren alles, nur keine Ruhe. Aber trotzdem, irgendwie fühlt es sich falsch an.

Herz und Kopf sind immer zwiegespalten. Ist es in Ordnung, wenn ich so entscheide? Wenn wir einen Gang zurückschalten? Ist es okay für ihre Entwicklung, wenn wir pausieren, ein bisschen weniger machen? Eine große Ecke in meinem Herz weiß aber auch, dass es richtig ist. Wir sind an der Grenze unserer Belastbarkeit. Eigentlich haben wir sie schon weit überschritten. Die Akkus sind leer und die Luft ist raus. Also ziehen wir unseren Vorsatz durch. Wie wir immer alles durchziehen. Und ich weiß, in meinem Kopf und in meinem Herzen: Es wird uns allen Mehrwert bringen! Auch wenn Mia vielleicht nicht so viel erreicht wie mit unserem „normalem“ Pensum. Gemeinsam entwickeln wir uns weiter. Als Familie. Als Einheit. Und das ist genauso gut.

Von kleinen Dingen, die riesengroß sind: Es ist wie ein Fest – von Lisa Mareile Stücher

Unsere Tochter war schon mit ihrer Geburt im U-Heft nie im Soll-Bereich der Perzentile. Wir hatten bei den ersten U-Untersuchungen schon gemerkt, dass sie eher klein, eher leicht und eher langsam in der Entwicklung ist. So weit, so gut. Sind ja nur Richtlinien. Durchschnitt. Und mal ehrlich, wer ist schon Durchschnitt? Beim ersten Kind sitzt man auch dermaßen auf der rosaroten Wolke… Man ist unerfahren und verlässt sich auf das Fachpersonal, die Hebamme, die Ärzte, die Freundinnen mit Kindern, die Omas; die Leute eben, die schon Erfahrung haben.

Die Familie Stücher: Niclas, Simeon, Lisa Mareile und Mia.
Die Familie Stücher: Niclas, Simeon, Lisa Mareile und Mia. © Familie Stücher

Mit der Zeit steigerte sich die Motorik nicht, immer noch fehlte die Sprache und vor allem wurden es in unserem Büro immer mehr Ordner mit Hilfsmitteln für Physiotherapie, Facharztberichten und Therapievorschlägen. Da beschlich mich doch das Gefühl, das wohl irgendetwas nicht stimmen könnte. Auch unser Kinderarzt wurde stutzig, als ich ihm sagte, dass Mia kein Wort sprechen kann. Nicht einmal brabbelt. Nach über 2,5 Jahren, bereits schwanger mit dem zweiten Kind, entschieden wir uns für einen Gentest. Ein gutes halbes Jahr später erfuhren wir die Diagnose Angelman-Syndrom. 1:15000. Wow. Wie besonders.

Mias Entwicklung ist immer noch langsam – sie wird auf dem Stand eines Kleinkindes stehen bleiben. Aber: Wir erleben all ihre Entwicklungsschritte so wahnsinnig deutlich. Es ist wie ein Fest. Wir Eltern sehen uns oft ungläubig an und wenn sich unsere Augen treffen, lesen wir die Gedanken des Anderen: „Hat sie das gerade echt geschafft?“ Unsere Augen funkeln dann vor Stolz. Sie sagt mittlerweile Mama und Papa. Sie kann die Schlösser unserer extra abgesicherten Treppen öffnen. Ohne hinsehen! Sie kann ihre erste super deutliche Gebärde! Sie kann aus einem Becher trinken! Sie kann springen! Sie ist einige Stufen frei gegangen! Ganz alleine ohne festhalten! Sie ist pfiffig und überrascht uns immer wieder.

Mutter und Tochter
Mutter und Tochter © Familie Stücher | Familie Stücher

Was viele Eltern als normal ansehen, sind für uns gigantische Meilensteine. Verbesserungen ihrer Entwicklung, motorisch wie geistig, sind eine Erleichterung unseres Alltags, weil wir zum Beispiel nicht mehr so viel tragen müssen wie in den ersten drei Jahren, in denen sie keinen Schritt gehen konnte. Oder dass sie selbstständig essen kann, egal wie klebrig sie und der Boden dann sind. Wie sagt man so schön: “Es sind die kleinen Dinge des Lebens.“ Und bei uns sind die kleinen Dinge eben riesengroß!

Die Angst vor der Angst: Es bringt mich an den Rand des Wahnsinns – von Lisa Mareile Stücher

Nach der Diagnose waren wir sehr gefasst. Wir sind in kein Loch gefallen, sondern haben die Situation und Mia so angenommen, wie sie ist. Das Beste draus gemacht. Therapien gesucht und durchgeführt, Unterstützungen vereinbart, für Assistenz für den Kindergarten gesorgt. Die Zähne zusammengebissen und durchgehalten. Die Lebensfreude unserer Mia hat uns immer wieder angesteckt und uns zum Durchhalten bewegt. Noch heute tun wir alles, was möglich ist, um Mia ein möglichst selbstständiges Leben zu ermöglichen.

Doch mit der Zeit – trotz all ihrer positiven Entwicklungen und kleinen und großen Meilensteinen – überkam mich immer mehr die Angst. Sie erlitt 2020 einen Tag vor Weihnachten einen heftigen, komplizierten Fieberkrampf. Dieses Ereignis mit den sechs Sanitätern im Wohnzimmer, die fast eine halbe Stunde brauchten, um sie aus dem Krampf zu holen, blieb uns nachhaltig in Erinnerung. Das Wissen, dass drei von vier Betroffenen Epilepsie haben, kreist seitdem aktueller denn je in unseren Köpfen. Wenn ein Infekt droht, Fieber steigt oder eine Rotznase kommt, klingeln in meinem Kopf sofort alle Sirenen. Es ist wie ein automatisierter Mechanismus, der kaum auszuschalten ist. Ich schlafe jede Nacht bei ihr, bis sie gesund ist. Und manchmal, da kommt die Angst auch einfach so, in anderen Nächten.

Es ist die Angst vor der Angst, dass es Mia doch trifft. Da liege ich in meinem Bett, starre auf die Kameraübertragung ihres Betts und lausche dem Babyphone. Ich kann nicht schlafen. Will nicht schlafen. Ich lausche jeder Drehung, jedem Atemzug von ihr. Ich habe Angst, etwas zu verpassen. Etwas nicht mitzubekommen. Sie wieder krampfend vorzufinden. Ich gehe in meinen Gedanken schon die nächsten Schritte durch: Notfallmedikament geben, 112 wählen, Tasche greifen, Windel reinwerfen, Kleidung, ihr Lieblingskuscheltier…

Die kleine Mia im Krankenhaus: Die fremde Umgebung macht ihr oft Angst.
Die kleine Mia im Krankenhaus: Die fremde Umgebung macht ihr oft Angst. © Familie Stücher

Mein Kopf raucht und mein Magen zieht sich zusammen. Mir ist kotzübel. Am Bildschirm sehe ich ein ruhig schlafendes Kind. Aber in meinem Kopf sieht es anders aus. Diese Angst ist anstrengend. Ermüdend. Sie raubt mir den Schlaf, bringt mich an den Rand des Wahnsinns und bestimmt nicht nur meine Nächte. Wie kann ich diese Angst bloß loswerden? Eine andere betroffene Mama sagte zu mir: „Wir sitzen einfach auf diesem Pulverfass und warten bis es explodiert.“ Ich könnte es nicht treffender ausdrücken. Und bei uns ist die Bombe hochgegangen.

Im September war wieder ein Großeinsatz, samt Arztanreise per Helikopter und zwei Anfahrten mit RTW ins Krankenhaus an einem Tag. Vier Fieberkrämpfe in 24 Stunden. Mia ging es richtig schlecht. Uns allen. Der Anblick unserer Tochter; erstarrt, merklich nicht atmend und erschlafft. Es war furchtbar. Solche Anfälle hatte ich noch nie gesehen. Nicht mal im Fernsehen. Nach einigen Tagen im Krankenhaus haben wir uns dann berappelt. Das EEG war in Ordnung. Also versuchten wir wieder dem Alltag nachzukommen und die Reste an „Positive Vibes“ wieder rauszukramen. Doch nur vier Wochen später ging es wieder los. Absenzen. Kurze Aussetzer, die immer häufiger wurden und Mias Hirn für Sekunden abschalteten. Sie fiel hin, erschrak, tat sich weh. Ich konnte keinen Zentimeter von ihr weichen. Teilweise konnte ich nicht einmal Verletzungen verhindern, obwohl ich direkt neben ihr stand.

Das EEG war im Vergleich ein Unterschied wie „Himmel und Erde“. Seitdem gibt’s nun die nächste Diagnose: Epilepsie. Wieder eine Woche Krankenhaus mit medikamentöser Einstellung. Und obwohl es für uns der nächste Tiefschlag war, ist es irgendwie auch erleichternd. Weil die Bombe geplatzt ist. Nun wissen wir, woran wir sind und wie wir Mia helfen können. Die Angst ist noch da. Aber sie ist kleiner geworden. Die Zuversicht wächst wieder. Die Nächte werden wieder besser. Und die Angst vor der Angst, schwindet langsam, aber sicher.

Für dieses Kind haben wir gebetet – und es nach Jahren bekommen. Von Lisa Mareile Stücher

Endlich können wir dieses Jahr abschließen! Was der Erholung dienen sollte, begann schon mit Krankheiten der Kinder, ging über eine Mutter-Kind-Kur, die mich der Psychiatrie näher als der Ruhe brachte, und zog sich durch mit Corona-Erkrankung, Magen-Darm, nicht endenden Fieberepisoden, Mittelohr-und Bindehautentzündungen, kleineren Unfällen und größeren Rettungswagen-Einsätzen, als uns lieb war, und endete mit einer weiteren Diagnose (Epilepsie) inklusive erneutem Krankenhausaufenthalt sowie noch mal Grippe für alle.

Zum Schluss freuen wir uns also nur auf die am Anfang des Jahres erhoffte Erholung und besinnliche und ruhige Feiertage. Was mich daran zurück bringt, darüber nachzudenken, was für ein Glück wir mit unseren beiden Kindern haben und was in diesem Jahr eben auch gut war. Ich bin nämlich der geborene Pessimist und sollte die positiven Ereignisse etwas öfter aufleuchten lassen… Der diesjährige Aufenthalt im Angelman-Zentrum München mit folgendem Urlaub brachte uns nämlich so viel weiter. Weniger die Untersuchungsergebnisse, mehr die Erkenntnis, dass wir als Familie so gut zusammen funktionieren und wie gesegnet wir mit unseren Kindern sind.

Die Männer erkundeten gemeinsam München und besuchten uns oft. Sie erlebten echte „Qualitytime“. Machten Papa-Sohn-Dinge und genossen die Tage. Wir Mädels sind im Klinikgarten mit dem Dreirad hoch und runter gefahren und haben den Ärzten und Schwestern wider Erwartung gezeigt, wie wahnsinnig entspannt ein kleines Angelmanmädchen sein kann.

Mia bei der Tomatis-Therapie: Die Methode soll die Fähigkeit zum Zuhören und Kommunizieren fördern und auf viele Gehirnbereiche positive Auswirkungen haben.
Mia bei der Tomatis-Therapie: Die Methode soll die Fähigkeit zum Zuhören und Kommunizieren fördern und auf viele Gehirnbereiche positive Auswirkungen haben. © Familie Stücher

Sie war so offen, hat alle Untersuchungen geduldig und ruhig, ohne Schlechtes zu erwarten, mitgemacht. Sie hat die Ärzte begeistert mit ihrem Entwicklungsstand und sogar überraschend gut geschlafen in dieser fremden Umgebung. Es war komischerweise fast wie Urlaub… Wir waren entspannt und haben das Beste aus der getrennten Zeit, den langen Tagen und den vielen Untersuchungen und Terminen gemacht.

Auch die Krankenhausaufenthalte zuhause, die erstmal mit Schock und Angst begannen, wendeten sich immer wieder positiv. Es war zum einen die frühere Physiotherapeutin von Mia, die im Flur stand, als ich um Hilfe schreien musste, und eine alte Bekannte, die diensthabende Schwester war, als wir aufgelöst und voller Sorge mit Anfällen im Krankenhaus waren. Wir erlebten EEGs, bei denen Mia komplett schlafen konnte und die somit viel besser auszuwerten waren. Normalerweise schläft Mia nie dabei, und sie allein schon für die Untersuchung so lange still zu halten, grenzt für mich immer an Hochleistungssport. Meine Muskeln sind anschließend alle gezerrt und ich bin schweißnass. Aber immer wieder sah ich in solchen kleinen, für uns großen Situationen, dass wir gesegnet sind.

Insgesamt war es ein heftiges Jahr. Aber auch ein Jahr, das uns vier zusammengeschweißt und uns gelehrt hat, was für ein großartiges Mädchen und einen tollen Jungen wir haben und was wir alles gemeinsam schaffen können! Wir haben damals lange darauf gewartet, schwanger zu werden. Insgeheim dachte ich schon, es gibt womöglich nichts. Doch dann klappte es doch. Welch ein Glück! Oder Zufall? Nein, Plan Gottes. Die Schwangerschaft mit Mia verlief so weit gut und wir haben uns sehr auf eine kleine Prinzessin gefreut. „For this child we have prayed” hängt in Mias Zimmer. Ich sah diesen Print und musste ihn einfach dort aufhängen. Wir haben für ein Kind gebetet. Und nach Jahren haben wir es bekommen.

Wenig überraschend kam nach ewigem Rätselraten die geahnte Diagnose. Und irgendwie war’s doch krass. Man muss sich das mal überlegen. 1:15.000! Das bedeutet, dass eines von 15.000 Kindern den Gendefekt Angelman-Syndrom hat. EINS! Und dieses eine Kind ist unseres! Man sagt, man kriegt, was man verdient. Ob das nun Strafe oder Gewinn ist, bleibt wohl jedem selbst überlassen zu entscheiden. Wir können nur sagen: Wir haben vielleicht bekommen, was wir verdienen. Keine Ahnung. So oder so, es ist uns ein Geschenk. Ein Geschenk des Himmels. Es ist nicht immer leicht. Dieses Jahr war mehr als anstrengend und der Vorsatz fürs kommende bleibt gleich. Erholung. Dennoch wissen wir, wir durchleben das alles nicht allein. Denn „for this child we have prayed”!

Auf dem Weihnachtsmarkt: Happy Inklusion und frohe Weihnachten – von Lisa Mareile Stücher

Auf dem Weihnachtsmarkt wollen die Kinder Karussell fahren. Die Tickets sind gekauft, die Kinder haben sich ihr Fahrgeschäft ausgesucht, ich steige ebenfalls dazu. Dann: „Sie dürfen nicht mitfahren!“ Dass meine Tochter (5) aber nicht allein fahren kann, ist unerheblich. Erwachsene dürfen nicht mitfahren.

Mein Sohn ist noch nicht einmal 3 und könnte auch jederzeit aus dem Ding aussteigen. Das hinterfragt niemand. Das ist erlaubt. Aber die Mutter eines behinderten Kindes, das Gefahren nicht erkennt, auf einem nicht mal halb besetzten Karussell? Nee, das geht nicht. Die Kleine muss allein fahren – oder gar nicht. Also gar nicht. Ich entscheide, beide Kinder wieder aus dem Karussell zu zerren.

Bereits beim lautstarken Gespräch mit dem Fahrkartenverkäufer über „Last Christmas“ hinweg spürte ich die fragenden Blicke der anderen Eltern. Die Fragezeichen in ihren Augen werden immer größer, als ich versuche, meine vehement quakende Tochter aus dem Karussell zu bugsieren – sie versteht nicht, kann gar nicht verstehen, was los ist; wehrt sich, gleitet mir beinahe durch die Hände, bevor ich sie endlich in den Kinderwagen gewuchtet bekomme. Ich kann mir vorstellen, was die anderen Eltern denken: „Was macht die Mutter da mit ihrem Kind?“, „Was ist hier los?“ und „Warum ist das Kind so schlecht erzogen?“. Ich höre den Fahrkartenverkäufer rufen: „Es liegt nicht dran, dass ich was gegen Behinderte hab!“ Ja, das ist ja gut. Dann wissen es jetzt alle. Happy Inklusion und frohe Weihnachten.

Eine Mutter erzählt: Unser Leben mit einem behinderten und einem gesunden Kind – von Lisa Mareile Stücher

Ich sitze hier und gewöhne meinen kleinen Sohn in den Kindergarten ein. Es ist laut, aber ich bin weit ab und kann meinen Gedanken lauschen. Bei unserer Großen ist alles so anders. Ich war drei Tage dabei, dann war sie eingewöhnt. Sie hatte keine Probleme mit der Trennung – dafür aber ich. Sie loszulassen, so unselbstständig wie sie ist, sie in fremde Hände zu geben... Es fällt mir schwer. Noch immer.

Mein Sohn ist trocken. Er spricht wie ein Wasserfall. Benennt laut und deutlich seine Wünsche und fordert sie auch vehement ein. Er ist selbstständig, zieht sich an, isst und trinkt allein und räumt auch alles wieder weg. Ich traue ihm viel zu. Manchmal sicherlich zu viel.

Der kleine Bruder Simeon auf dem Weg zum Kindergarten
Der kleine Bruder Simeon auf dem Weg zum Kindergarten © Familie Stücher

Es ist dieser Unterschied, der unser Leben in zwei Welten teilt. Unsere Tochter Mia Cécilia ist 5 Jahre alt, sie hat das Angelman-Syndrom. Dieser Gendefekt geht mit einer stark geistigen Behinderung einher, zudem gehört starke Entwicklungsverzögerung in allen Bereichen – und Epilepsie – dazu. Sie kann nicht sprechen. Unser Sohn Simeon Bennet ist fast 3. Eine flippige Quasselstrippe, und genauso viel Pfeffer im Bobbes wie seine Schwester. Beide Kinder sind so unterschiedlich. Doch die Tatsache, dass wir ein behindertes und ein gesundes Kind haben, durchschneidet unseren Alltag. Zwei Leben eben.

Wir feiern Meilensteine unterschiedlich. Wir beurteilen Situationen anders. Schimpfen anders. Wir vergleichen wenig. Wir reflektieren viel und optimieren alles, was geht, zu jeder Zeit. Wir versuchen, allem und allen gerecht zu werden und auch zu den Kindern in ihrer Unterschiedlichkeit gerecht zu sein. Ich scanne Räume, Situationen, Menschen und sehe innerlich eine Warnleuchte schrillend blinken, wenn Gefahr droht, mögliche Unfälle zustande kommen können oder etwas Unangenehmes passieren könnte. Alles schon vorgekommen. Ich bin im Dauer-Stand-By; hin und her gerissen zwischen diesen zwei Welten, in denen wir leben.

Mia Stücher hat das Angelman Syndrom - ihre Eltern Lisa Mareile und Niclas schreiben für die Lokalredaktion Siegen über den Alltag mit einem schwerbehinderten Kind.
Mia Stücher hat das Angelman Syndrom - ihre Eltern Lisa Mareile und Niclas schreiben für die Lokalredaktion Siegen über den Alltag mit einem schwerbehinderten Kind. © Familie Stücher

Es sind die Kleinigkeiten, die uns alles durch zwei Brillen betrachten lassen. Die Meilensteine, die Perzentile im U-Heft, der Spielplatzbesuch, der Brunch mit Freunden, das Ausgehen als Paar. Auf der einen Seite mit unserem Sohn alles kein Problem. Er kann meinen Anweisungen folgen, mit mir sprechen, selbst laufen und benötigt keine Führung. Ich kann ihn auch mal loslassen. Auch mit meinem Herz.

Auf der anderen Seite ist das leider mit unserer Tochter nicht oder nur unter sehr erschwerten Bedingungen oder mit viel Hilfe möglich. Man braucht für alles mehr Augen, mehr Hände und mehr Aufmerksamkeit. Eine ständige 1:1-Betreuung. Es ist ein eingeschränktes Leben. Wie das Leben unserer Tochter eben auch ist. Und doch erfüllt dieser anstrengende Alltag mein Herz. Unser Leben mit einem behindertem und einem gesunden Kind.

Hintergrund: Das Angelman-Syndrom

Geistige und körperliche Einschränkungen, Störungen der Bewegungs- und der Sprachentwicklung sowie des Verhaltens sind bei Erkrankungen wie dem Angelman-Syndrom Folgen einer Veränderung der Chromosomen. Viele seltene Erkrankungen wurden nach ihren Entdeckern benannt: Der englische Kinderarzt Harry Angelman beschrieb das Syndrom 1965 erstmals, zunächst aufgrund des auffälligen Bewegungsmusters und des häufigen Lachens der Kinder als „Happy-Puppet-Syndrom“ („Glückliche Puppe“, Red.). Das Angelman-Syndrom geht oft einher mit Entwicklungsverzögerungen, kognitiven Behinderungen, einer stark reduzierten Sprachentwicklung und überdurchschnittlicher Fröhlichkeit, die oft unbegründet wirkt, etwa weil sie auch bei Aufregung und Stress auftritt.